AboAbonnieren

AfghanistanWarum die Bundesregierung die Lage eklatant falsch einschätzte

Lesezeit 4 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Ein Airbus der Luftwaffe nach der Landung in Taschkent.

Köln – Dramatisch, bitter, furchtbar. Fehleinschätzungen, falsche Lagebeurteilung. Selten haben sich deutsche Spitzenpolitiker so deutlich, so schnell und so einhellig in den Staub geworfen wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Außenminister Heiko Maas (SPD) und andere, die auf Regierungsseite in der Afghanistan-Politik mitzureden hatten.

Aber erstens lebt sich’s mit der Maxime „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ auch in der Politik besser, und zweitens gab es in Wahrheit auch keine andere Wahl: Zu eklatant klaffen die einschlägigen Aussagen zur Lage und die jüngsten Ereignisse auseinander.

Sitzungsprotokoll des Krisenstabs

Die „Bild“-Zeitung zitierte jetzt aus einem Sitzungsprotokoll des Krisenstabs der Bundesregierung vom 13. August, wonach der Bundesnachrichtendienst (BND) die Übernahme Kabuls durch die Taliban vor dem 11. September „für eher unwahrscheinlich“ hielt und den islamistischen Kämpfern attestierte, sie hätten „derzeit kein Interesse“ an einer Eroberung der afghanischen Hauptstadt.

Alles zum Thema Deutscher Bundestag

Zwar sei mit einem Sieg der Taliban zu rechnen, hieß es vom BND zuvor an anderer Stelle, aber erst in anderthalb bis zwei Jahren. Und auch die kurzfristige Einschätzung der Sicherheitslage lag so weit daneben, dass immer noch keine Evakuierungsflüge der Bundeswehr für deutsche Staatsbürger und Ortskräfte geplant waren, als die Taliban-Kämpfer schon im Präsidentenpalast von Kabul posierten.

Andere Botschaften längst geräumt

Die ARD berichtete, dass Vertretungen anderer Nationalitäten längst geräumt gewesen seien, als die Bundesregierung die deutsche Botschaft mit Hilfe von US-Soldaten evakuieren ließ.

Wem in der Regierung angesichts der jüngsten Entwicklungen nun wann und wie sehr unbehaglich zumute war, ist auch Teil der politischen Profilierung und Selbsterhaltung.

Maas hat die schlechtesten Karten

Klar ist aber, dass Maas mit seinen Stellungnahmen insbesondere im Parlament die schlechtesten Karten hat. Am 9. Juni ging er im Bundestag ausdrücklich nicht davon aus, dass die Taliban „in wenigen Wochen das Zepter in der Hand haben“ würden.

Eine gute Woche zuvor sagte Maas im ZDF: „Mit Blick auf die Zukunft setzen wir darauf, dass die Taliban verstanden haben, dass die Konflikte in Afghanistan politisch gelöst werden müssen und es nie eine militärische Lösung geben wird.“

Rosige Zukunftsbilder

So richtig der Hinweis ist, dass Maas mit solchen Prognosen keineswegs allein stand und die rosigen Zukunftsbilder vor allem vom großen Verbündeten in Washington gemalt wurden, so falsch wäre die Behauptung, man hätte die Dinge nicht so kommen sehen können, wie sich de facto entwickelten. Die Grünen beantragten schon Mitte Juni im Bundestag, afghanische Ortskräfte schnell vor den Taliban in Sicherheit zu bringen, die sie als „Kollaborateure des Westens verfolgen“ würden.

Gespräch (1)

Jürgen Todenhöfer

Der Publizist Jürgen Todenhöfer, ein Kenner der Verhältnisse in Afghanistan, erinnert im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ an verschiedene – auch eigene – Veröffentlichungen, die ein Scheitern des Westens voraussagten. Der größte Fehler der deutschen Regierung sei es gewesen, immer nur eine Seite – konkret: die afghanische Regierung – gehört und das Land am Hindukusch aus dem fernen Berlin nie verstanden zu haben. „Ich habe immer gesagt: Es gibt keine Lösung ohne die Taliban, die Taliban müssen an der nächsten Regierung maßgeblich beteiligt sein.“

Unkenntnis der Taliban-Strategie

Dass das Land jetzt so rasend schnell und für die deutsche Seite so überraschend in die Hände der Taliban zurückgefallen sei, habe auch mit einer Unkenntnis der militärischen Strategie zu tun, die sich schon bei der Rückeroberung von Kundus gezeigt habe: Vor dem eigentlichen Angriff seien Hunderte Taliban-Kämpfer in die Stadt eingesickert. Ähnlich sei es jetzt auch in Kabul gewesen.

„Es gehört zur Tradition dieses Landes, die »Ausländer« rauszuschmeißen“, sagt Todenhöfer und zieht eine lange Linie von den Nachfolgern Alexanders des Großen über die Briten im 19. und die Sowjets im 20. Jahrhundert bis zu den USA und ihren Nato-Partnern heute. Der nationalistische Impuls ist so stark, dass selbst die Hasara im Norden Afghanistans es am Ende lieber mit ihren Peinigern, den Taliban, hielten als mit deren Gegnern aus dem Westen.

Gewachsenes Misstrauen

Als Problem für eine realistische Lagebeurteilung machen Experten auch ein gewachsenes institutionalisiertes Misstrauen zwischen den westlichen Akteuren und ihren afghanischen Partnern vor Ort aus. Laut Todenhöfer kam erschwerend das psychologische Phänomen hinzu, „dass man intuitiv immer die eigenen Verbündeten gut findet“

Das könnte Sie auch interessieren:

Deswegen konnte die Erkenntnis nicht Raum greifen, wie sehr der Hass in der Bevölkerung auf die afghanische Regierung den Taliban in die Hände spielen würde: Verbrüdert mit den Fremden, korrupt bis auf die Knochen und gestützt durch mörderische Warlords aus der Zeit vor dem Afghanistan-Krieg – dieses Konglomerat bedeutete den Garaus für das Regime von Präsident Aschraf Ghani zum erstbesten Zeitpunkt.

Und der BND? Todenhöfer will dem deutschen Auslandsgeheimdienst an sich nichts Schlechtes nachsagen. Aber er sei gerade in Afghanistan immer nur so stark – oder so schwach – gewesen, wie seine US-amerikanischen Partnerorganisationen ihn hätten sein lassen.