Atomkraft im Streckbetrieb: Was ist das - und was bringt er?
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Berlin – Drohende Energieknappheit, steigende Preise: In Deutschland wird kontrovers über eine weitere Nutzung der Atomkraft debattiert. Vor dem Hintergrund, dass Russland weniger Gas liefert, gibt es Überlegungen, die Laufzeiten der drei verbliebenen Atomkraftwerke zu verlängern. Die Bundesregierung hat einen weiteren Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung angesetzt - auf dessen Basis soll entschieden werden, ob die Kernkraftwerke etwas länger laufen sollen.
Die aktuelle Gesetzeslage sieht vor, dass Isar 2 in Bayern, Emsland in Niedersachsen und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg am 31. Dezember 2022 vom Netz gehen. Danach ist die Betriebserlaubnis erloschen. Manche erhoffen sich, über eine Verlängerung im sogenannten Streckbetrieb den Gasmangel etwas abzufedern.
Der Betriebszyklus eines Reaktorkerns beträgt im Normalfall ohne Unterbrechung ungefähr ein Jahr. Nach Ablauf wird der Reaktor heruntergefahren und etwa das älteste Viertel bis Drittel der abgebrannten Brennelemente im Reaktorkern gegen neue getauscht.
Bei der Kernspaltung treffen langsame Neutronen auf Uran 235, so dass dieses in leichtere Kerne zerfällt. Dabei wird Energie in Form schneller Neutronen freigesetzt. Im Normalbetrieb wird ein Teil dieser schnellen Neutronen etwa durch die Beigabe von Borsäure im Kühlmittel abgebremst, um weitere Atomkerne besser spalten zu können. Mit der Zeit wird die Konzentration der Borsäure kontinuierlich reduziert. Irgendwann ist das natürliche Zyklusende erreicht.
Im Streckbetrieb wird der Reaktorkern über das Zyklusende hinaus genutzt. Durch Absenkung der Kühlmittel-Temperatur erhöht sich die Wasserdichte zwischen den Brennstäben. Dadurch werden die schnellen Neutronen ebenfalls gebremst, die bei der Kernspaltung entstehen.
So kann der Reaktorkern etwa 80 bis 90 Tage über seinen eigentlichen Betriebszyklus hinaus genutzt werden. Aber: Er verliert sukzessive an Leistung - täglich rund 0,5 Prozent, wie die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit angibt. Nach 80 Tagen wäre er noch bei etwa 60 Prozent seiner ausgelegten Leistung. Spätestens dann müssten neue Brennelemente eingesetzt werden.
Kurzum: Bei Streckbetrieb soll die Restenergie der Brennstäbe genutzt werden. Isar 2 zum Beispiel ist seit Mitte Oktober 2021 mit 48 neuen Brennelementen „für den letzten Betriebszyklus” wieder am Netz, wie der Betreiber, die Eon-Tochter PreussenElektra, damals mitteilte.
Gibt es durch den Streckbetrieb zusätzlichen Strom?
Dazu gibt es verschiedene Angaben. Der Technische Überwachungsverein (TÜV) Süd geht etwa für den bayerischen Standort Isar 2 von 2,2 Terawattstunden (TWh) Strom in 80 Tagen Streckbetrieb aus, wie es in seiner Bewertung vom April im Auftrag der bayerischen Landesregierung heißt.
Dagegen kommt der Prüfbericht der Grün-geführten Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft/Klima vom März zum Ergebnis, der Streckbetrieb bringe keine zusätzlichen Mengen. Bis Jahresende würden die drei AKW weniger Energie erzeugen als ursprünglich geplant, „um über den 31.12.2022 hinaus im ersten Quartal 2023 noch Strom produzieren zu können”.
Diese Aussage wiederum bezeichnet der Verband Kerntechnik Deutschland (KernD) als „nicht korrekt”. „Streckbetrieb bedeutet Ausnutzung von Brennstoff über das geplante Zyklusende hinaus und damit die Produktion zusätzlicher Strommengen”, so die Stellungnahme. Auch Neckarwestheim-2-Betreiber EnBW stellt klar: Die Anlagenleistung werde vor Beginn eines Streckbetriebs nicht abgesenkt.
zufolge ist der im Streckbetrieb produzierte Strom tatsächlich eine zusätzliche Menge. Doch Erfahrungen unter anderem mit dem stillgelegten AKW Gundremmingen in Bayern hätten gezeigt, dass der damit produzierte Strom nicht besonders ins Gewicht falle.
Der letzte Gundremmingen-Block C wurde am 31. Dezember 2021 vom Netz genommen. 76 Tage zuvor war der Meiler in den Streckbetrieb gegangen. Nach Smitals Auswertung sind währenddessen 2 TWh Strom erzeugt worden. Der Reaktor habe bei der Abschaltung noch etwas mehr als 70 Prozent der Maximalleistung gehabt. Ein Weiterbetrieb hätte also noch schätzungsweise etwa 0,5 TWh Strom liefern können.
Nimmt man diese 2,5 TWh zusätzlichen Strom und spekuliert, jeder der drei heutigen Meiler könnte eine ebensolche Strommenge liefern, so wären mit diesen 7,5 TWh gerade 1,4 Prozent der Gesamtstromproduktion des Jahres 2021 (518 TWh) abgedeckt. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 65,2 TWh aus Erdgas ins Netz eingespeist.
Was sagen die Betreiber?
Ein Streckbetrieb ist für die AKW-Betreiber EnBW (Neckarwestheim 2), RWE (Emsland) und die Eon-Tochter PreussenElektra (Isar 2) auch eine ökonomische Abwägung: Einerseits wird durch die Leistungsabnahme kontinuierlich weniger Strom erzeugt und verkauft, andererseits werden die Brennstäbe besser ausgenutzt.
EnBW will zum Beispiel voraussichtlich im Herbst mit dem Streckbetrieb beginnen. „Die Abschaltung der Anlage spätestens Ende 2022 wird somit bei bereits verminderter Leistung erfolgen”, heißt es Mitte August auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur.
Die anderen beiden Betreiber wollten sich hingegen zunächst nicht in die Karten schauen lassen, wann und ob sie einen Streckbetrieb schon vor Jahresende planen. Sollte sich der Bund für eine Laufzeitverlängerung im Streckbetrieb entscheiden, zeigte sich Eon-Chef Leo Birnbaum zuletzt offen für entsprechende Gespräche mit der Politik. „An uns soll es jedenfalls nicht scheitern”, sagte er jüngst dem Nachrichtenmagazin „Spiegel”.
Möglicherweise weiß die Bundesregierung bald mehr. Eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums erklärte am Sonntag: Es gebe noch kein endgültiges Stresstest-Resultat, die Untersuchung dauere an. Wenn die Ergebnisse final seien, werde man diese vorstellen.