Die unzufriedenen ZufriedenenFrank-Walter Steinmeier zu Besuch in Pulsnitz
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Pulsnitz – Die Altstadt herausgeputzt, die Arbeitslosenquote niedrig, Sitz vieler kleiner Firmen und Handwerksbetriebe - es gibt Städte in Ostdeutschland, denen es wesentlich schlechter geht als Pulsnitz in Sachsen. „Wenn man sich die Papierform anschaut, ist das eine Stadt, bei der man eigentlich sagen müsste: Alles in Ordnung“, konstatiert denn auch Frank-Walter Steinmeier am Mittwoch. „Wenn man auf die Wahlergebnisse schaut, dann spürt man aber doch: Es gibt Unzufriedenheit in der Stadt.“ Die Wahlergebnisse - das waren zuletzt bei der Landtagswahl am 1. September 29,8 Prozent für die AfD.
Kaffee und Gebäck inklusive
Der Bundespräsident und seine Frau Elke Büdenbender sind in die rund 7500 Einwohner zählende, 25 Kilometer nordöstlich von Dresden gelegene Stadt gefahren, um zu ergründen, woher diese Stimmung kommt. Kein leichtes Unterfangen, wie sich zeigen wird. Steinmeier nutzt dafür seine Gesprächsreihe Kaffeetafel. Zu Kaffee und Gebäck haben sich diesmal 14 geladene Gäste versammelt, voran die Bürgermeisterin Barbara Lüke. Sie ist der zweite Grund für Steinmeiers Visite in der für ihre Pfefferkuchenherstellung bekannten Kommune.
Steinmeier und Lüke kennen sich schon aus dem Sommer, als die Kommunalpolitikerin zusammen mit anderen Bürgermeistern im Schloss Bellevue war. Der Anlass damals: die zunehmenden verbalen und immer wieder auch tätlichen Attacken auf Kommunalpolitiker.
Dieses Thema treibt Steinmeier um - verstärkt seit der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke Anfang Juni vermutlich durch einen Rechtsextremen. Damals sprach er von einem „Alarmzeichen für unsere Demokratie“. In Pulsnitz würdigt er Kommunalpolitiker als „das Gerüst der Demokratie, das Rückgrat der Demokratie“.
Die parteilose Lüke, seit 2016 im Amt, hat ihre eigenen Erfahrungen mit Anfeindungen gemacht. Beleidigungen, Eierwürfe auf die Fenster ihres Hauses, überdimensionierte Hundehaufen vor der Tür - „das ist üblich“, berichtet die 51-Jährige. Auslöser sind oft einfache Sachentscheidungen - in Pulsnitz etwa der geplante Abriss der völlig maroden Sportstätte „Kante“. Den schon 2014 gefassten Beschluss setze sie jetzt um, sagt Lüke. „Sie können sich nicht vorstellen, was da los ist. Wie viele Beleidigungen ich mir deswegen habe anhören müssen. Diese Sportstätte führt zu sehr viel Hass.“
Jammern auf hohem Niveau
Doch woher kommen Frust und Unzufriedenheit? Bei der Kaffeetafel bekommt Steinmeier zunächst einmal Sätze wie diese zu hören: „Uns geht es wirtschaftlich gut.“ Und: „Ich bin zufrieden.“
Dann aber kommt das „Jammern auf hohem Niveau“, von dem einer der Gäste spricht. Dass vom Lohn zu viele Steuern und Abgaben runtergingen, so dass kaum etwas übrig bleibe, wird kritisiert. Dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege immer unerträglicher würden. Dass es keine Wertschätzung mehr für hart arbeitende Menschen gebe. Und dass der Werteverfall in der Gesellschaft zunehme. Höflichkeit, Anstand, das Miteinander blieben immer mehr auf der Strecke.
Diffsue Sorgen und Ängste
Einem Gesprächsteilnehmer fehlt die „Demut“ bei Wählern wie Gewählten. „Die da oben machen, was sie wollen.“ Ein anderer klagt: „Der wirtschaftliche Druck ist hoch.“ Viele diffuse Sorgen und Ängste werden sichtbar. Steinmeier hört zu, fragt nach, weist unter anderem darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit von 22 auf 6 Prozent gesunken sei. Das zeige doch, „dass nicht alles schlechter geworden ist“.
„Es wäre leichtfertig, einfach zu ignorieren, was sich auf der lokalen Ebene verändert“, sagt Steinmeier hinterher. Er weist auf die Gefahr hin, dass Unzufriedenheit mit Entscheidungen umschlägt in Wut und Hass auf Politik generell. Und er erinnert an die Angriffe auf Kommunalpolitiker „dafür, dass sie Verantwortung übernehmen“.
Nicht alle halten diesem Druck stand. Im sächsischen Arnsdorf beantragte die Bürgermeisterin Martina Angermann (SPD) soeben nach monatelanger Hetze ihre vorzeitige Versetzung in den Ruhestand. Für Lüke kommt das nicht in Frage: „Da denke ich überhaupt nicht drüber nach.“ Ihr mache die Arbeit trotz allem Spaß, sagt sie. Sie sei von Haus aus Insolvenzrechtlerin. „Da war ich auch immer der Depp von der Bank, der das Wohnhaus weggenommen hat.“ Ärger ist die Juristin also einfach gewohnt. „Ein besseres Training hätte es gar nicht geben können.“ (dpa)