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Ohne RedezeitbegrenzungGregor Gysi wird neuen Bundestag eröffnen – und die AfD schäumt

Lesezeit 4 Minuten
18.03.2025, Berlin: Gregor Gysi (M, Die Linke) testet das Pult für die Rede zur Eröffnung des neuen Bundestags nach der 214. Plenarsitzung der 20. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag.

18.03.2025, Berlin: Gregor Gysi (M, Die Linke) testet das Pult für die Rede zur Eröffnung des neuen Bundestags nach der 214. Plenarsitzung der 20. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag.

Am Dienstag wird Gregor Gysi als zweiter Linker die Legislaturperiode eröffnen - ohne Redezeitbegrenzung. Die AfD plant Proteste.

Gregor Gysi verspricht, nicht zu übertreiben. Das schreibt der Linken-Abgeordnete auf X zu einem Video, das ihn beim Probesitzen auf dem Präsidentenstuhl im Bundestag zeigt. Am kommenden Dienstag wird der 77-Jährige als Alterspräsident den 21. Deutschen Bundestag eröffnen - und diese Rede hat traditionell keine Zeitbeschränkung.

Genau damit hat der Linken-Abgeordnete im Wahlkampf als Teil des „Silberlocken“-Trios kokettiert. Gysi ist für seine brillante Rhetorik bekannt, doch nicht unbedingt für kurze Sätze: Seine Pointen, Beispiele, Anekdoten, mit denen er seine politischen Forderungen illustriert, brauchen Zeit.

Als Gregor Gysi Norbert Lammert eine neue Uhr schenken wollte

Doch die Redezeit eines Abgeordneten ist normalerweise begrenzt. Gysis Wortwechsel mit dem früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) darüber finden sich bis heute im Netz. Einmal bot Gysi Lammert an, ihm zum Geburtstag eine neue Uhr zu schenken. Bei Gysi haben diese Scharmützel einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Das erste Mal in meinem Leben durfte ich auf dem Platz sitzen, von dem aus Norbert Lammert dereinst meine Redezeit im Auge hatte“, schreibt Gysi auf X. Ganz kurz wird er nach all der geweckten Erwartung auch nicht fassen: „Es gibt schon so einige Gedanken, die ich den neuen und wiedergewählten Abgeordneten auf den Weg geben werde.“

1994 sorgte die Union für einen Eklat

Es ist das zweite Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Abgeordneter der Linken beziehungsweise ihrer Vorläufer Alterspräsident wird. Das erste Mal ist gut 30 Jahre her und wurde von einem Eklat begleitet. Als der 81-jährige Stefan Heym im November 1994 als Alterspräsident den 13. Bundestag eröffnete, blieben die Abgeordneten der Unionsfraktion sitzen. Nach seiner Rede verweigerten CDU und CSU dem Schriftsteller den Applaus - ein bis dahin unerhörter Bruch der ungeschriebenen Regeln des Parlaments.

Heym hatte als Parteiloser für die damalige PDS kandidiert und gewann den Wahlkreis Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg direkt. Gysi hatte Heyms Kandidatur maßgeblich vorangetrieben - mit dem einzigen Ziel, dass ein früherer DDR-Prominenter als ältester Abgeordneter den Bundestag eröffnen sollte. Jahre später sagte Heym im „Spiegel“-Interview: „Dass so einer wie ich, mit so einem Lebensweg, da vorn stehen konnte, finden Sie nicht auch, dass dies etwas ziemlich Einmaliges war?“ Die PDS habe ihn auch instrumentalisiert, halten die Interviewer ihm vor. „Ich aber auch die PDS“, kontert Heym.

Heym appellierte an die Solidarität

Heyms Rede selbst war alles andere als skandalös, erst recht in der Rückschau nach 30 weiteren Jahren Ost-West-Debatte. Der in eine jüdische Chemnitzer Kaufmannsfamilie geborene Heym erinnerte daran, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg als US-Soldat aus dem Exil zurückkam. Er zitierte Brechts Kinderhymne: „Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe wie ein anderes gutes Land.“ Heym hob die Lebensleistung der Ostdeutschen hervor und sagte: „Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenen Lande: West, Ost, oben, unten, reich, arm.“

Die allermeisten Unionsabgeordneten aber rührten keine Hand zum Applaus. Das lag auch daran, dass am Vortag der falsche Verdacht aufgekommen war, Heym habe mit der Staatssicherheit der DDR zusammengearbeitet.

Beatrix von Storch nennt Gysi „Stasispitzel“ - der hat gegen den Verdacht oft geklagt und gewonnen

Heute ist es die AfD, die Gysi der Stasi-Zuarbeit verdächtigt. Fraktionsvize Beatrix von Storch sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): Es sei „ein Unding, dass der AfD zustehende Rechte“ beseitigt würden und statt Alexander Gauland nun Gysi den Bundestag eröffne. Von Storch bezeichnet ihn als „ehemaligen Stasispitzel IM Notar“. Gysi hat in den vergangenen Jahren mehrfach erfolgreich gegen Berichte geklagt, die ihm eine Zusammenarbeit mit der Stasi anlasten wollten.

Dass nicht der sieben Jahre ältere AfD-Ehrenvorsitzende Gauland, sondern Gysi den Bundestag eröffnet, liegt an einer Änderung der Geschäftsordnung, die Lammert 2017 durchsetzte. Seitdem wird nicht mehr das Lebensalter, sondern die im Bundestag verbrachte Zeit gezählt. Seit dem Tod Wolfgang Schäubles ist Gysi der dienstälteste Abgeordnete. Er sitzt seit 1990 im Bundestag, mit einer Unterbrechung als Berliner Wirtschaftssenator.

Wie sehr sich die Zeiten seit 1994 geändert haben, ist auch daran zu sehen, dass aus der Unionsfraktion keinerlei Protest gegen den Alterspräsidenten Gysi laut wird. Fast jeder relevante Unionsvertreter habe in den vergangenen Jahrzehnten schon einmal mit Gysi in einer Talkshow gesessen und dessen Witz und rhetorische Fähigkeiten schätzen gelernt, heißt es aus der Fraktion.

Die AfD hingegen ist unversöhnlich. Auf der Fraktionssitzung am Dienstagmorgen werden nach RND-Informationen verschiedene Wege beraten, wie die auf 152 Abgeordnete angewachsene Fraktion ihren Unmut gegen Gysi zeigen wird. „Darüber denken wir noch nach“, sagt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann dem RND. Spekuliert wird auch darüber, ob die Geschäftsordnung angezweifelt werden soll, dass der dienstälteste Abgeordnete sprechen darf. Doch ausgerechnet Gauland spricht sich dagegen aus. Das bringe eh nichts, sagte der AfD-Senior dem RND.