Karlsruhe – Der Bundestag muss „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage treffen. Das Bundesverfassungsgericht teilte am Dienstag in Karlsruhe mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber.
Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe. Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung habe er Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.
Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen reichten Beschwerde ein
Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“, das „sortieren“ oder „aussuchen“ bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.
Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen haben Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie befürchten, von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren. Das höchste deutsche Gericht gab ihnen nun Recht. Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt werden.
Klägerinnen und Kläger sehen genannten Kriterien mit Sorge
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hat mit anderen Fachgesellschaften „Klinisch-ethische Empfehlungen“ erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben.
Das Verfassungsgericht erläuterte, die Empfehlungen der Divi seien rechtlich nicht verbindlich und „kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht“. Zudem weist es auf die möglichen Risiken bei der Beurteilung hin, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“.
Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen
Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, dem Risiko einer Benachteiligung wegen einer Behinderung bei der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirkungsvoll zu begegnen, befand das Gericht. Als Beispiel wurden Vorgaben für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen genannt oder Regelungen zur Unterstützung vor Ort. „Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind“, hieß es in der Mitteilung.
Im Sommer 2020 gab es keinen Grund für große Eile
Die Verfassungsbeschwerde ist schon seit Mitte 2020 in Karlsruhe anhängig. Damit verbunden war auch ein Eilantrag - den die Richterinnen und Richter des zuständigen Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth allerdings abgewiesen hatten. Sie teilten damals mit, das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten.
Im Sommer 2020 sahen sie auch keinen Grund für große Eile: Die Verbreitung der Krankheit und die Auslastung der Intensivstationen lasse es im Moment nicht wahrscheinlich erscheinen, dass eine Triage-Situation eintrete.
Entscheidung zur Triage wichtig wegen vierter Corona-Welle und Omikron
Inzwischen stellte sich die Lage anders dar. Die vierte Corona-Welle hat zuletzt vielerorts Krankenhäuser an die Belastungsgrenze gebracht, Patienten mussten in andere Regionen verlegt werden. Und Experten warnen vor einer noch viel dramatischeren Entwicklung durch die Ausbreitung der neuen Virusvariante Omikron.
Im Grundgesetz steht: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Zur Eilentscheidung hatte der Senat damals mitgeteilt, dass sich hier insbesondere die Frage stelle, „ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist“.
Niemand soll aufgrund einer Behinderung ausgeschlossen werden
Außerdem wollten die Richterinnen und Richter den „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen“ ausloten.
Die Divi und Mitautoren ihrer Leitlinien hatten nach Bekanntwerden der Verfassungsklage versichert, niemand werde aufgrund von Alter, Grunderkrankung oder Behinderung von der Versorgung ausgeschlossen.
Deutsche Stiftung Patientenschutz sieht Bundestag in der Pflicht
Die Kriterien würden nur relevant, wenn ihretwegen die Wahrscheinlichkeit sinke, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Bei dieser Einschätzung würden alle gleich behandelt. Gleichzeitig forderte auch die Divi eine gesetzliche Grundlage, um Medizinern Rechtssicherheit zu geben.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz sah ebenfalls den Bundestag in der Pflicht, Regelungen zur Triage festzulegen. „Die Bundestagsabgeordneten sind die einzigen, die demokratisch zu einer solchen Entscheidung legitimiert sind“, sagte Vorstand Eugen Brysch der Deutschen Presse-Agentur. Vor allem gehe es um die Frage, ob jemand vom Beatmungsgerät genommen wird. Die Regeln müssten in allen Krankenhäusern gleich sein, forderte Brysch. (dpa)