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Geeint wie noch nieWie äußere Feinde den inneren Zusammenhalt bewirken

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Applaus im Bundestag für die Regierungserklärung von Olaf Scholz zum Krieg in der Ukraine.

Berlin – Eine SPD-geführte Bundesregierung kündigt 100 Milliarden Euro für Rüstung an, und die CDU-Opposition applaudiert. Die Europäische Union beschließt ein Sanktionspaket nach dem anderen, und keiner der 27 Mitgliedstaaten schert aus. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilt Russland, und nur fünf Länder stimmen dagegen. Angesichts des von Wladimir Putin begonnenen Krieges schließen sich die Reihen.

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Bei der UN-Resolution zur Verurteilung des Angriffs auf die Ukraine stimmten 141 Staaten mit Ja.

Das ist wenig überraschend. Nichts schweißt so sehr zusammen wie ein gemeinsamer Gegner - dafür liefert die Geschichte viele Beispiele. Dem Historiker Andreas Rödder, derzeit Gastprofessor an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, fällt da unter anderem Kaiser Wilhelm II. ein. Dieser verkündete im Sommer 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“

Wer aus der so empfundenen Schicksalsgemeinschaft ausschert, wird schnell geächtet. 1914 traf das mutige Kriegsgegner wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Heute haben sich sogenannte Putin-Versteher wie Gerhard Schröder und Sahra Wagenknecht in der politischen Debatte ins Abseits manövriert. Die Ausgangslagen und die Motive sind kaum vergleichbar, doch der psychologische Mechanismus ist derselbe, wie Rödder meint: „Es gibt nichts Einigenderes als den äußeren Feind.“

Nato und EU wieder geeint

In besonderer Weise gilt das für die Nato, die im Kalten Krieg 40 Jahre lang unverbrüchlich zusammenstand, doch nach der Auflösung ihres Gegners, der Sowjetunion, in eine Existenzkrise geriet - der französische Präsident Emmanuel Macron bescheinigte ihr noch vor wenigen Jahren den „Hirntod“. Jetzt erlebt die westliche Allianz ihre Wiederauferstehung, geboren aus der äußeren Bedrohung durch Putin.

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Der ukrainische Präsident spricht per Video vor dem europäischen Parlament.

Auch die EU wirkt plötzlich wie ein geeinter Block. Die quälende Auseinandersetzung der EU-Kommission mit Polen und Ungarn wegen der demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite beider Länder wird von dem Krieg in der Ukraine überlagert. „Das wird auch noch eine Weile so bleiben“, glaubt der Politikwissenschaftler und EU-Experte Berthold Rittberger von der Universität München. Zudem zeigt insbesondere Polen eine große Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Mit ihnen können sich die Polen stärker identifizieren als mit den syrischen Flüchtlingen des Jahres 2015.

Die europäische Integration wird seit jeher durch Krisen vorangetrieben. Aus der Euro-Krise ging der Euro-Rettungsschirm hervor, aus der Flüchtlingskrise die gemeinsame Grenzsicherung, aus der Corona-Pandemie der Wiederaufbaufonds, der mit dem Tabu brach, dass die Nettozahler keine gemeinsamen Schulden aufnehmen wollten. „Durch den Ukraine-Krieg wird nun die EU als verteidigungspolitischer Akteur ins Rampenlicht gerückt“, sagt Rittberger. Er sieht einen „Quantensprung innerhalb weniger Tage“. So hat die EU erstmals in ihrer Geschichte den Kauf und die Lieferung von Waffen an ein angegriffenes Land beschlossen.

„Der Krieg wirkt hier als Katalysator“

Rittberger geht davon aus, dass die EU jetzt auch an ihrer eigenen militärischen Einsatzfähigkeit innerhalb der Nato arbeiten wird. „Der Krieg wirkt hier als Katalysator.“ Dabei stehe immer die US-Präsidentschaftswahl im November 2024 im Hintergrund, bei der erneut ein Wahlsieg von Donald Trump oder eines ähnlichen republikanischen Politikers möglich erscheine. „Dann kann es ganz schnell heißen: „Auf unsere Unterstützung braucht ihr nicht mehr zu zählen.“ Die EU hat jetzt zweieinhalb Jahre Zeit, sich darauf vorzubereiten, wie sie dann der Bedrohungslage Herr werden will.“ Derzeit habe sie nichts zu bieten, was einem glaubwürdigen Abschreckungsszenario gegenüber einer militärischen Großmacht wie Russland gleichkommen würde.

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Nato-Sondertreffen der Außenminister.

„Es gibt jetzt eine ganz kurze Zeitspanne, in der sich steinharte Verhältnisse über Nacht verflüssigen und dadurch gestaltbar sind, bevor sie sich wieder verfestigen“, sagt Rödder. „Dadurch wird vorübergehend möglich, was gestern noch undenkbar war und auch morgen schon wieder ausgeschlossen sein wird.“ Stichwort 100 Milliarden für die Bundeswehr. „Das ist für mich als Historiker die wichtigste Erkenntnis: dass sich Verhältnisse innerhalb von kurzer Zeit ganz einschneidend ändern können.“

Erste Risse sind schon zu erkennen

Von Dauer ist die dafür nötige Geschlossenheit selten. Sobald sich die äußere Bedrohung abschwächt, brechen die inneren Konflikte wieder hervor. Schon jetzt lassen sich erste murrende Stimmen in der SPD zur geplanten Aufrüstung vernehmen. „Die SPD ist immer bereit gewesen, die eigene Macht zu verbrennen, wenn sich die Regierung zu weit von den Instinkten der Basis entfernt hat“, sagt Rödder. „Die SPD tickt da anders als die CDU, die jahrelang eine Kanzlerin toleriert hat, die weit von der Parteilinie abgewichen ist. Die CDU hat es mitgetragen, weil es die Macht sicherte. Die SPD dagegen hat Helmut Schmidt und Gerhard Schröder als Kanzler gekillt.

Vor diesem Hintergrund stecken in der außenpolitischen Kehrtwende für Scholz existenzielle Risiken.“ Derzeit gehen die Zustimmungswerte für Scholz und die Bundesregierung nach oben, aber ob das so bleibt, wenn zum Beispiel die Energiepreise nochmal deutlich anziehen, ist die Frage.Was sich als dauerhaft erweisen dürfte, ist die neue Außen- und Sicherheitspolitik, die sich in der Krise herausgebildet hat. Es ist das, was Rödder mit dem verflüssigten Stein beschreibt, der sich anschließend wieder verhärtet, dann aber eine neue Form angenommen hat. Der Historiker und Buchautor („Wer hat Angst vor Deutschland?“) spürt die Folgen dieser neuen Politik in Washington schon ganz deutlich: „Der Schwenk vom Sonntag hat hier in den USA definitiv einen Knoten gelöst. Das Verhältnis war sehr abgekühlt. Nicht nur Trump und die Republikaner, sondern auch die Demokraten waren nachhaltig irritiert über Deutschland. Das ist jetzt vorbei. Alle haben verstanden, dass hier etwas ganz Grundlegendes passiert ist.“

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Das allgemeine Zusammenrücken birgt allerdings auch die Gefahr, dass man sich gegenseitig hochschaukelt und es so zur Eskalation kommt. Das kann im schlimmsten Fall den Dritten Weltkrieg bedeuten. „Wie immer ist internationale Politik eine Frage der Balance“, sagt Rödder. „Auf der einen Seite muss man aufpassen, dass es keinen Überbietungswettbewerb um die härtesten Reaktionen gibt, auf der anderen Seite war es absolut notwendig, von Appeasement zu Containment überzugehen, von Beschwichtigung zur Eindämmung. Ich habe die deutsche Politik am Sonntag von ihrer allerstärksten Seite wahrgenommen, und damit meine ich sowohl Olaf Scholz als auch Friedrich Merz als Oppositionsführer. Ich habe den Eindruck, dass da wirklich kluge und besonnene Politiker am Werk sind.“

Wie geht es weiter? Nichts ist so unberechenbar wie ein Krieg. Auch der meinungsstarke Analytiker Rödder wagt da keine Prognose. „In dem Moment, in dem der erste Schuss fällt, hat man die Dinge nicht mehr in der Hand.“ Ob Putin seine militärischen Ziele noch einigermaßen zügig erreiche oder sich total verhebe und verbeiße, könne man nicht absehen. „Es gibt die alte Geschichte des Lyderkönigs Krösus, dem geweissagt sein soll: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören“. Er hatte nicht erwartet, dass damit er selbst gemeint war.“ (dpa)