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Drosten: Delta-Variante wirklich ernst nehmen

Lesezeit 4 Minuten

Berlin – Nach Einschätzung des Charité-Virologen Christian Drosten muss Deutschland die Delta-Variante in der Pandemie ab sofort ernst nehmen.

„Ich bin mittlerweile so weit, dass ich sage, wir sind hier jetzt im Rennen in Deutschland mit der Delta-Variante”, sagte Drosten auf dem Online-Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin. „Wir müssen das ab jetzt wirklich ernst nehmen.”

Mutante breitet sich aus

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Nach einer Analyse des Robert Koch-Instituts für die erste Juniwoche hatte sich der Anteil der Delta-Variante in Deutschland innerhalb von nur einer Woche auf sechs Prozent fast verdoppelt. In den Wochen zuvor stagnierte diese Mutante bundesweit eher um die zwei Prozent. Auch jetzt liegt sie noch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau - allerdings im Rückblick. „Vom Gefühl her kann ich sagen, uns rufen immer mehr Leute an, die Ausbrüche beschreiben, immer mehr Labore”, berichtete Drosten. Im Süden Dänemarks und in Schleswig-Holstein gebe es gerade ein Ausbruchsgeschehen. „Das erinnert mich an den Beginn der B.1.1.7-Epidemie in Deutschland, wo es genauso war”, sagte der Virologe.

Die ansteckendere Variante B.1.1.7., die 2020 in Großbritannien bekannt wurde, hatte Deutschland im Winter in die dritte Pandemiewelle getrieben. Eindämmungsmaßnahmen kamen zu spät oder waren zu inkonsequent.

Blick nach Großbritannien als Mahnung

Die Situation jetzt in Deutschland sei mit der in England im Mai durchaus ein wenig vergleichbar, analysierte Drosten. In Großbritannien hatte die ansteckendere Delta-Variante innerhalb weniger Wochen trotz fortgeschrittener Impfquoten deutlich die Vorherrschaft im Infektionsgeschehen übernommen. Die 7-Tages-Inzidenzen stiegen wieder - von 20 auf 70. Lockerungen wurden deshalb gestoppt. Angesteckt hätten sich dabei vor allem junge Erwachsene, sagte Drosten. Die Infektionen hätten sich in England vorwiegend in den Impflücken abgespielt.

„Wenn wir jetzt so rechnen würden, wie sich das in England entwickelt hat, also mit einer ungefähren Verdoppelung pro Woche, dann hätten wir dieses spekulative Szenario: Dann lägen wir in dieser Woche schon bei 20 Prozent”, sagte Drosten. Anfang Juli wäre die Delta-Variante dann auch in Deutschland im Bereich der Dominanz. „Und wir müssten damit rechnen, dass Anfang Juli in Deutschland auch die Meldezahlen wieder hochgehen”, folgerte der Wissenschaftler. Das sei aber noch reine Spekulation und eine Hypothese. Deutschland habe noch Chancen, wenn es die Inzidenz in den nächsten Wochen weiter senken könne. „Was auch helfen könnte, sind die Schulferien. In England ging es in den Schulen los. Das ist ein deutlicher Unterschied.”

Immunität in Deutschland nicht ausreichend

Es gebe aber auch in Deutschland noch keine ausreichende Immunität durch die Impfung zur Eingrenzung eines möglichen Inzidenzanstiegs. Bundesweit ist rund die Hälfte der Erwachsenen ein Mal geimpft, ein knappes Drittel vollständig. In England stiegen die Inzidenzen trotz höherer Impfquoten aber weiter, sagte Drosten. Dort seien die Ansteckungen in Schulen und in den Veranstaltungs- und Freizeitbereich bei jungen Leuten übergeschwappt. „Das werden wir dann wahrscheinlich auch in Deutschland sehen.”

Es sei bisher aber keine erhöhte Re-Infektionsrate zu beobachten. „Das heißt, die, die entweder geimpft sind oder infiziert waren, sind gut geschützt.” Für die Zukunft sei auch ein Verlust des Zusammenhangs zwischen Fallzahl und Krankheitslast zu erwarten. Trotz Ansteckung würden die Infektionen dann milde oder gar nicht spürbar. „Im Extremfall beobachten wir eine Laborepidemie, wenn wir alle geschützt hätten. Aber wir wissen alle, Kinder sind noch nicht geschützt und viele andere auch nicht”, sagte Drosten. Deshalb müsse man die Krankheitsschwere bei der Delta-Variante im Moment immer noch erst nehmen. Auch in England gebe es weiter Klinikeinweisungen auf einem stagnierenden Level. Bei den Nicht-Geimpften sei die Krankheitsschwere durch die Delta-Virusvariante also wahrscheinlich durchaus erhöht. Es gebe aber bisher keine Evidenz dafür, dass es kränker mache als andere Varianten, ergänzte Drosten.

Streeck: Politik nicht aktiv genug

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck betonte, man sei nicht am Ende der Pandemie. Er beklagte, die Politik sei immer noch zu reaktiv und nicht aktiv genug. „Wir versäumen es, aus der Pandemie maximal zu lernen und uns auf Herbst und Winter vorzubereiten. Es herrscht allgemein der Eindruck, das Virus verschwindet und dass wir die Pandemie überwunden haben, wenn die nächsten Monate ruhig laufen”, sagte Streeck der „Fuldaer Zeitung” (Samstag). Man müsse sich aber für alle Eventualitäten, die im Herbst eintreten könnten, vorbereiten. Es gebe zu viele Unbekannte - darunter auch die Delta-Variante.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel meldete sich mit einer Mahnung zur Vorsicht zu Wort. Wegen sehr geringer Fallzahlen könnte man Corona-Ausbrüche in Deutschland derzeit sehr viel besser verfolgen und mit der Delta-Variante gut umgehen, sagte die CDU-Politikerin vor einem Abendessen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin. „Aber ich kann nur sagen: Wir können nicht so tun, als wäre Corona vorbei. Auch wenn an einem solchen Sommerabend das Gefühl ist, da ist nichts mehr.” Auch weil es einen großen Teil nicht geimpfter Menschen gebe, die keinen vollen Schutz hätten „glaube ich, ist Vorsicht weiter notwendig, damit wir einen Sommer doch vieler Freiheiten haben, aber noch nicht aller Freiheiten”, sagte die Kanzlerin.

© dpa-infocom, dpa:210619-99-55651/5 (dpa)