Historisch ist das, was gerade im Iran passiert: Seit dem Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini gehen die Menschen auf die Straße – angeführt von Müttern, Töchtern, Schwestern. „Frauen. Leben. Freiheit!“ lautet ihr Schlachtruf. Was er für eine Signalwirkung hat und welche Rolle die Generation Tiktok bei den Protesten spielt, erklärt die Journalistin Düzen Tekkal im Interview.
Düzen Tekkal über Proteste im Iran„Die stärksten Frauen, die ich je kennengelernt habe“
Frau Tekkal, die Revolution im Iran dauert bereits zwei Monate an. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Düzen Tekkal: Alle Zeichen stehen auf Konfrontation. Der Armeesprecher hat es ja ganz offen gesagt: Demonstranten werden jetzt wie Staatsfeinde behandelt, und das Regime führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Die Menschen haben Angst, dass sich das Jahr 2019 wiederholt, als innerhalb von zehn Tagen mehr als 1500 Menschen getötet worden sind. Auf der anderen Seite gehen Dutzende, Hunderte, Tausende Menschen trotz der Schauprozesse, trotz der Angst, landesweit auf die Straße. Es gibt Generalstreiks, Widerstand. Es wird gesungen, es wird getanzt. Und das Regime kommt nicht dagegen an. Und das ist die Revolution.
Was ist bei dieser Protestwelle anders?
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Die Menschen sind hochmodern und haben aus der Vergangenheit gelernt. Man verabredet sich schneeballsystemmäßig in einem Café und marschiert los. Und die gemeinsame Solidarität ist einem sicher. Überall im Land gibt es Großdemonstrationen, Generalstreiks. Es gibt Videos, die uns mit der Wahrheit vor Ort konfrontieren. Frauen, die sich die Lautsprecher der Moscheen schnappen und zur Revolution aufrufen, zum Beispiel. Das sind völlig neue Bilder, mit denen wir uns hier auseinandersetzen. Aber ich habe das Gefühl, dass es im Westen immer noch nicht richtig angekommen ist.
Jina Mahsa Amini ist nicht die erste Frau, die im Iran getötet wurde. Warum entfalten die Proteste ausgerechnet jetzt so eine Kraft?
Die Wirkkraft liegt darin, dass wir jetzt Zeugen dieser Frauenrechtsverletzungen werden. Dass Menschen unter Einsatz ihres Lebens Videos drehen und wir diese Videos bekommen. Da werden Teenager getötet. Es ist die Tiktok-Generation, die über die Klippe springen muss. Es gibt Identifikationsmöglichkeiten, die es früher nicht gab. Plötzlich sehen wir: Das sind Menschen, die sehen aus wie wir, die haben dieselben Träume. Die wollen einfach leben. Der Unterschied zu den letzten 43 Jahren ist auch, dass die Menschen das Schweigen gebrochen haben. Früher konnte das Unrechtsregime heimlich morden. Das ist jetzt vorbei. Deshalb braucht es die maximale Unterstützung aus der Welt. Schlachtruf aus der kurdischen Freiheitsbewegung
Bei den Protesten sehen wir auch viele Männer auf die Straße gehen. Wie groß ist die Unterstützung für die Frauen?
Es ist eine feministische Revolution, und die Frauen gehen vor. Aber die Männer ziehen nach. Auch sie haben Töchter, Mütter, Schwestern. Und das Ziel, das alle eint, ist: Weg mit diesem Mörderregime! Es verbindet tiefgläubige Menschen in Zahedan, genauso wie es die Kräfte in Kurdistan und die Studenten in Teheran, die Akademia, die Minderheiten, die Arbeiter und die Schülerinnen und Schüler verbindet. Und dagegen hat das Regime noch kein Mittel gefunden. Bisher hatte es davon gelebt, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Die Bilder, mit denen das Regime früher gearbeitet hat, entfalten heute aber eine andere Kraft. Sie werden zu Märtyrerbildern. Der 27‑Jährige, der in Belutschistan an den Pfahl gebunden wurde zum Beispiel. Solche Bilder machen keine Angst mehr, sie bringen die Menschen auf die Straße. Trotzdem dürfen wir nichts schöner reden, als es ist. Es ist weiterhin hochgefährlich! Die große Angst der Menschen ist, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit verschwindet.
„Frauen. Leben. Freiheit.“ ist zum Schlachtruf der Bewegung geworden. Was bedeuten diese Worte für die Menschen im Iran?
Die bedeuten alles. Diese Worte sind der Kopf der Bewegung. „Frauen. Leben. Freiheit.“ ist ein ursprünglicher Slogan aus der kurdischen Freiheitsbewegung. Dass ausgerechnet ein kurdischer Begriff für diese landesweite Bewegung genommen wurde, zeigt ja auch noch mal mehr den Wandel. „Wir sind alle Jina Mahsa Amini“, das ist ein Synonym für Freiheit, für das Leben und für das Frau-Sein. Der Kampf für Frauenrechte ist universell.
Die Unterdrückung der Frau, die gab es nicht immer im Iran.
Nein. Aber das heutige Regime ist auf der Unterdrückung der Frau aufgebaut. Die iranische Aktivistin Shirin Ebadi beschreibt in einem Interview sehr eindrucksvoll diesen Moment vor 43 Jahren, als sie die Zeitung aufschlägt und plötzlich liest, was sie alles nicht darf in diesem neuen islamischen Regime. Sie guckt zu ihrem Mann und sagt: „Ich bin nur ein Objekt. Ich bin kein Mensch mehr.“ Die Frau spielt eine zentrale Rolle. Weil die Frau gedemütigt, vergewaltigt, entmündigt wurde. Deswegen ist es jetzt auch die Frau, die ganz vorne steht und sagt: Nicht mehr mit mir! Nicht mehr mit meinem Körper. Nicht mehr mit meinem Leben!
Gibt es historische Vorbilder für eine solche feministische Revolution?
Mir sind keine bekannt. Aber es ist auf jeden Fall der Geist der Frauen von 1979, der in die Generation Z gefahren ist. Schon damals haben es die Frauen gesagt: Der Kampf für Frauenrechte ist nicht östlich oder westlich, sondern universell. Und gerade, weil es von den Frauen kommt, macht es diese Revolution so stark. Das kann man nicht mit dem Arabischen Frühling vergleichen. Hier entsteht ein Modell, das Schule machen kann. Deswegen wird es ja so bekämpft. Die Angst, dass sich diese Bewegung auf andere Länder überträgt, ist da.
Wie viel Signalwirkung können die Proteste im Iran entfachen?
Eine Wahnsinnssignalwirkung! Es sind ja bereits in anderen Ländern Frauen auf die Straße gegangen, etwa in Afghanistan. Dort gehen trotz Ausschluss der Öffentlichkeit die Frauen für ihre Schwestern im Iran auf die Straße. Davor habe ich den größten Respekt. Durch meine Arbeit als Kriegsberichterstatterin weiß ich auch, dass die Frauen und Kinder immer dieselben Wünsche haben: Sie wollen Zukunft. Sie sind Geberinnen. Sie sind die Agents of Change. Die Frauen im Mittleren und Nahen Osten sind die stärksten Frauen, die ich je kennengelernt habe. Sie sagen ja auch nicht: „Helft uns!“ Sie sagen: „Räumt uns die Steine aus dem Weg, den Rest schaffen wir alleine.“ Maximale Isolation des Mörderregimes.
Dann sprechen wir über mögliche Steine. Ich habe Sie gerade gefragt, wie es den Menschen im Iran geht – unter anderem auch deshalb, weil wenig berichtet wird. Wie solidarisch sind wir in Deutschland tatsächlich mit den Frauen im Iran?
Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen der Zivilgesellschaft und zum Beispiel der politischen Führung. Das finde ich großartig. Frauen, die zufällig Journalistinnen sind, wollen berichten und wundern sich, dass ihre Redaktionen noch nicht so weit sind. Es gibt auch sehr viel Solidarität von Künstlern, Schauspielern und Prominenten weltweit. Coldplay, Harry Styles oder auch Michelle Obama zum Beispiel. Aber es gibt ganz wenig Commitment seitens der politischen Führung. Außer diesen zwei Tweets hat Olaf Scholz noch nichts gesagt. Und das reicht halt nicht.
Außenministerin Annalena Baerbock kündigte eine feministische Außenpolitik an. Wie viel davon sehen Sie?
Da geht auf jeden Fall noch was. Aber was ich davon jetzt sehe, dass sich die Außenministerin in einer Weise äußert, die ich von ihren bisherigen Vorgängern nie erlebt habe. Wir können uns gerne lustig machen über diesen Begriff oder ihn als Maßstab nutzen. Aber vielleicht können wir auch darüber nachdenken, wie dankbar wir dafür sein können, dass überhaupt so ein Maßstab diskutiert wird. Trotzdem reicht es natürlich noch lange nicht. Es geht um die maximale Isolation dieses Mörderregimes.
Was können die Menschen in Deutschland für die Frauen im Iran tun?
Jeder das, was er kann. Die Künstlerin kann eine Kunstausstellung machen, die Designerin die Hoodies, die Politikerin geht ins Parlament. Jeder von uns kann etwas tun, jeder von uns kann konfrontieren und Grenzen überschreiten und seinen Freunden, seinem Kommunalpolitiker klarmachen: Das Schicksal der Menschen im Iran ist mir nicht egal. Der Traum von einem freien, demokratischen Iran.
Können auch Frauen in Europa oder anderen westlichen Ländern von diesen Frauen lernen?
Auf jeden Fall. Was sie lernen können, ist der Löwenmut. Doch der ist schon lange da in unseren Kulturkreisen. Dieses Bild der unterdrückten Frau im Orient, das erfährt gerade Risse. Ich finde es großartig, dass ausgerechnet im Iran die Frauen sagen: „Dieses Kopftuch ist keine Freiheit!“ Und dass die Frauen, die Hijab tragen, mit diesen Frauen gemeinsam um die Glaubensfreiheit kämpfen.
Wenn Sie in die Zukunft blicken: Was für ein Land könnte der neue Iran sein?
Das wäre unvorstellbar. Über ein Land nachzudenken, wo die Menschen, die gerade auf den Straßen sind, zu Ansprechpartnern für den Westen werden. Das wäre in jederlei Hinsicht zu unterstützen. Da möchte ich Hamed Esmaeilion zitieren, der Frau und Tochter bei dem iranischen Flugzeugattentat verloren hat. Er sagt, das Einzige, was ihn am Leben halte, seien Gerechtigkeit und seine Träume. Er träumt von einem freien, demokratischen Iran. Warum sollten wir das dann nicht auch?
Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Es wird lang, es wird blutig. Aber die Tatsache, dass die Menschen bereit sind, für etwas zu sterben, das größer ist als ihre Angst, ist eine Kraft, die nicht aufzuhalten ist. Es gibt keinen Weg zurück.