Köln – Das Schicksal tausender Menschen, die in Afghanistan bis zur Machtübernahme durch die Taliban Mitte August 2021 für die Bundeswehr oder andere Institutionen gearbeitet haben, ist in Vergessenheit geraten. Mehr als 1600 sogenannte Ortskräfte „der deutschen Entwicklungszusammenarbeit“ seien mit ihren Familien seit Mai 2021 nach Deutschland ausgereist, heißt es aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Zusammen seien das rund 7000 Personen. Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte.„Nein“, sagt der ehemalige Oberstabsfeldwebel Lothar Hankel. Er leitet die Regionalgruppe Köln/Bonn des Patenschaft-Netzwerks für ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan. Dort schätzt man die Zahl derer, die Deutschland noch aufnehmen müsse, weil sie unter dem Taliban-Regime vor einer ungewissen Zukunft stünden und zum Teil mit dem Tode bedroht werden, auf 9000 Menschen. Hankel sagt: „Die Lage der Ortskräfte hat sich nicht verbessert, seit die Taliban die Macht haben.“
Herr Hankel, warum fällt Ihre Einschätzung der Lage so viel pessimistischer aus als die der Bundesregierung?
Die Regierung hat sich bei ihrer Rettungsaktion weniger um die Ortskräfte der Bundeswehr gekümmert, sondern sich auf die sogenannte Menschenrechtsliste konzentriert, die beim Auswärtigen Amt geführt wird und auf der auch viele Afghanen stehen, die sich vor den Taliban in Sicherheit bringen mussten. Diese Menschen sind recht schnell gerettet worden, weil sie über die finanziellen Mittel verfügen, um sich beispielsweise Pässe zu besorgen.
Natürlich. Wer nicht bereit ist, hohe Bestechungsgelder zu zahlen, braucht in Afghanistan erst gar keinen Pass zu beantragen. Manchmal muss man sogar einen Aufschlag zahlen, will man das Verfahren beschleunigen. Ohne Pass ist eine Ausreise aus Afghanistan unmöglich.
Von welchen Summen reden wir? Was kostet eine Ausreise nach Deutschland?
Pro Person muss man mit bis zu 2500 Euro rechnen, wenn kein Pass vorhanden ist. Das reicht für den Reisepass, den Transfer in ein Drittland einschließlich Unterkunft und Versorgung, die Visa-Gebühren, den Flug nach Deutschland inklusive PCR-Test. Das Visum-Verfahren in der deutschen Botschaft eines Drittlandes dauert drei bis vier Wochen.
Warum kümmert sich die Bundesregierung aus Ihrer Sicht zu wenig um das Schicksal der Ortskräfte?
Weil deren rechtlicher Status in vielen Fällen unklar ist. Nach derzeit gültiger Rechtslage haben nur diejenigen einen Anspruch auf eine Aufnahmezusage, deren Beschäftigungsverhältnis bei der Bundeswehr nicht schon vor 2013 beendet war. Trifft das zu, muss die ehemalige Ortskraft über den ehemaligen Arbeitgeber, der in der Regel die Bundeswehr ist, eine Gefährdungsanzeige stellen. Dann soll die sichere Ausreise ermöglicht werden.
Was kritisieren Sie an diesem Verfahren?
Wir haben dem Auswärtigen Amt im Sommer 2021 eine Liste mit rund 1300 Namen von Ortskräften und ihren Angehörigen geschickt, die diese Kriterien erfüllen. Aber es fallen zu viele durchs Raster, um die sich Deutschland auch dringend kümmern muss. Was ist mit jenen, die vor 2013 entlassen wurden? Die sind unserer Meinung nach auch höchst gefährdet. Oder die vielen Subunternehmer, die im Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan tätig waren.
Wie hoch schätzen Sie die Gesamtzahl?
Zwischen 9000 und 10.000.
Was kann der Patenschaftsverein tun?
Der Verein hat insgesamt 324 Menschen von der Liste der 1300 retten können. Das sind ungefähr 70 Familien mit Frauen und Kindern. Die Aktion haben wir aus Spendengeldern und Mitgliedsbeiträgen finanziert, ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Mehr war bisher leider nicht möglich. Wir haben gehofft, dass wir mit Hilfe der Bundesregierung und anderen Hilfsorganisationen deutlich mehr Menschen retten können.
Mit 330 Mitgliedern und einem für diese Größenordnung fantastischen Spendenaufkommen von einer Million Euro ist nicht mehr möglich. Die Spendenbereitschaft, die im Juni und Juli 2021 sehr groß war, weil die ganze Welt auf Afghanistan blickte, hat stark nachgelassen. Jetzt konzentriert sich alles auf den Ukraine-Krieg. Immerhin ist unser Verein von 57 auf 330 Mitglieder angewachsen. Wir bekommen nach wie vor ein paar Spenden. Das Geld reicht aber nicht, um weitere ehemalige Ortskräfte herauszuholen.
Wie läuft es mit der Integration derjenigen, die es nach Deutschland geschafft haben?
Wir haben drei Sozialarbeiter eingestellt, die den Menschen helfen sollen, sich in Deutschland zurechtzufinden. Einer von ihnen ist eine ehemalige Ortskraft aus Afghanistan, die schon seit 2005 in Deutschland lebt und hier Sozialarbeit studiert hat. Dieser Mann ist für uns besonders wichtig, weil er Dari-Persisch spricht und so die Verbindungen nach Afghanistan halten kann.
Was ist mit den anderen knapp 1000 auf der Liste?
Zu etlichen haben wir den Kontakt längst verloren. Das kann bedeuten, dass sie es auf anderen Wegen geschafft haben, Afghanistan zu verlassen und unsere Hilfe nicht mehr benötigen. Es kann im schlimmsten Fall aber auch heißen, dass sie längst tot sind.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir werden zum Jahrestag des Machtwechsels in Afghanistan einen kleinen Tageskongress in Berlin veranstalten, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Dazu werden wir Eberhard Zorn, den Generalinspekteur der Bundeswehr einladen, der immerhin unser Schirmherr ist, die Wehrbeauftragte Eva Högl, und Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses.
Wir hoffen sehr, dass der Ukraine-Krieg dann zu Ende ist und wir die neue Bundesregierung an ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag erinnern können. Im Bundestag ist auch noch ein Untersuchungsausschuss zur allgemeinen Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes geplant. Da wird es auch um die Evakuierungsaktion gehen.