- Die aktuellen Krisen eröffnen einen Angstraum, der mit düsteren Prognosen und Eskalations-Szenarien gefüllt werden kann.
Mit dem Einbruch der Kälte und dem Näherrücken der Energiekrise ist die Unbeschwertheit der Sommermonate verflogen. In unseren Tiefeninterviews im „rheingold“-Institut beobachten wir, wie rasant sich die Stimmung derzeit wandelt und wie stark sich die Gemüter vieler Bürger erhitzen.
Die Inflation, die steigenden Energiepreise und die Aussicht auf horrende Nachzahlungen für Strom oder Gas schüren bei vielen Bürgern die Angst vor schleichendem Wohlstandsverlust, sozialem Abstieg und der drohenden Kälte.
Die Solidarität in der Bevölkerung, die noch bei Beginn des Ukraine-Kriegs zu beobachten war, findet sich oft nur mehr in Bezug auf die eigene Familie. An die Stelle der Solidarität treten ein vehementes Einzelkämpfertum und eine zunehmende gesellschaftliche Entzweiung, die auch darin begründet ist, dass die Krise nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen trifft.
Sparappelle in der Krise werden als zynisch erlebt
Die einen sind bereits jetzt verzweifelt, weil sie nicht mehr wissen, wie sie bei den gesteigerten Kosten durch den Winter kommen können. Die Sparappelle der Regierung erleben sie als zynisch, da sie für sich keinerlei Sparpotenzial mehr erkennen. Andere wiederum versuchen, sich aufgrund ihrer finanziellen Potenz der Krise zu entheben. Sie meinen, sich das Sparen sparen zu können, beruhigen sich durch verstärkten Konsum oder unbändige Reiselust und beweisen sich selbst, dass sie weiter in der Lage sind, die Fülle des Lebens voll auszukosten.
Die zunehmende Erhitzung im Umgang mit den aktuellen Krisen ist auch Ausdruck von deren gespenstischer Unbestimmtheit. Ausmaß und Dauer sind den meisten Befragten nicht klar: Sitzen wir im Winter in lauwarmen oder eiskalten Wohnungen? Gibt es vielleicht einen Blackout, der dramatische Kettenreaktionen nach sich zieht? Greift ein in die Defensive gedrängter Putin zu Atomwaffen? Zudem verschränken sich die unterschiedlichen Krisenwahrnehmungen, was dazu führen könnte, dass die Krisenreaktionen einander gegenseitig verstärken, aber auch relativieren.
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Der Krieg in der Ukraine kann die Energiekrise noch weiter zuspitzen. Die nächste Corona-Welle könnte das Ausharren in den kalten Wohnungen schier unerträglich machen. Umgekehrt hoffen viele Menschen, dass der – sonst so bedrohliche – Klimawandel uns dieses Jahr einen warmen, milden Winter beschert.
„Doppel-Wumms“ von Olaf Scholz beruhigt die Menschen nicht
Selbst die eilig geschnürten Entlastungspakete der Politik erleben die meisten Menschen als unbestimmt. Weder der vollmundige „Doppel-Wumms“ noch die abstrakt in Aussicht gestellten 200 Milliarden Euro lassen erkennen, was das für die Einzelnen bedeutet und ob sie in der Lage sein werden, das Ausmaß der möglichen Belastungen für ihren persönlichen Alltag abzufedern.
Diese mehrfache Unbestimmtheit eröffnet einen Angstraum, der mit düsteren Prognosen und Eskalations-Szenarien gefüllt werden kann und der das Misstrauen gegenüber der Politik befeuert. Von einer wachsenden Zahl von Bürgern wird die Krise nicht – wie etwa die Flutkatastrophe im Sommer des vorigen Jahres – als naturgegeben erlebt, sondern als selbst gemacht und damit selbst verschuldet.
„Der Ofen ist aus“
Verantwortlich sollen die Politikerinnen und Politiker sein, die das Land in die Abhängigkeit vom russischen Gas manövriert hätten oder denen die Solidarität mit der Ukraine anscheinend wichtiger sei als die eigene Bevölkerung: „Der Ofen ist aus! Wir müssen jetzt ausbaden, was die Politik verbockt hat.“ Durch solche Schuldkonstruktion wird derzeit mit einer unheimlichen und unverfrorenen Energie Unmut in Wut verwandelt.
Die Wut wird dabei auch durch Urängste vor der elementaren Kraft einer drohenden Kälte geschürt, die den meisten allenfalls noch aus den Kriegserzählungen der Großeltern bekannt ist. Während die Menschen eine Ahnung davon haben, dass sie eine erkleckliche Zeit ohne Essen und immerhin einen Tag ohne Trinken überstehen könnten, ist die Vorstellung eisiger Kälte schon für wenige Stunden unaushaltbar. In der Kälte ersterben die Freude und das Leben.
Von der Politik wünschen sich die Bürger in der aufgeheizten Stimmung Klarheit, Einigkeit und vor allem Zuversicht. Ein lebensbejahendes Signal wäre es, die Weihnachtsbeleuchtung nicht gänzlich dem erforderlichen Energiesparkurs zu opfern. Der Lichterglanz im Spätherbst und Winter hat angesichts der befürchteten Kälte eine beinahe elementare Bedeutung.
Er erhellt das Dunkel der Unbestimmtheit, vermittelt soziale Wärme und lässt zum Fest die tröstende Gemütlichkeit aufglimmen, die viele dieses Jahr schon jetzt gefährdet sehen. Das Licht der Weihnacht wird gerade in diesem Krisenjahr zum Hoffnungsschimmer am Ende des Wintertunnels.
Stephan Grünewald ist Geschäftsführer des Kölner „rheingold“-Instituts. Er schreibt aus psychologischer Sicht über gesellschaftlich relevante Themen.