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Druck auf dem KesselImmer mehr Demos in ostdeutschen Städten

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Demonstration im sächsischen Plauen

  1. Wie bereits im vergangenen Jahr gehen besonders im Osten in Groß- und Kleinstädten jeden Montag die Menschen auf die Straße. Der Protest gegen Energiepreisschocks und Russland-Sanktionen umfasst auch die Mitte der Gesellschaft.
  2. Rechtsextreme Demo-Unternehmer wittern ihre Chance, und Kommunalpolitiker finden unterschiedliche Wege zum Umgang mit der wachsenden Wut.

Berlin – So laut wie am Montagabend ist es sonst nie in Frankfurt (Oder). Ein Traktor fährt an der Spitze des Protestzugs, dann kommen sechs schwere Sattelschlepper, deren Fahrer unablässig die Hupen röhren lassen. Unter den Windschutzscheiben hängen Transparente. „Ampel in die Produktion“ steht darauf und „Deutsch-Russische Freundschaft“.

Dann folgen die Menschen, knapp 1700 sollen es sein, eine leichte Steigerung zur Vorwoche. 58.000 Einwohner hat die Stadt an der deutsch-polnischen Grenze.

Auf den Transparenten im Demonstrationszug stehen Slogans wie „Ampel ausschalten“, „Nordstream 2 öffnen“ und sogar „Nordstream 3 planen“. Schwarz-rot-goldene Fahnen und die russische Trikolore werden geschwenkt, gerne auch zusammen. Die Menschen gehen meist schweigend durch die Stadt, vereinzelt erschallen Rufe durchs Megafon: „Für Freiheit und Demokratie, gegen unsere grüne Terrorregierung“.

Im neunten Stock des Bürohochhauses „Oderturm“ schaut Oberbürgermeister René Wilke auf die Stadt herunter. Das dunkle Tröten der Lastwagen schallt herauf. Die Demonstranten haben gefordert, dass Wilke zu ihnen sprechen soll. Vor vier Jahren wurde der Linken-Politiker mit damals gerade 34 Jahren zum Stadtchef gewählt. Die Demonstranten haben ihn aufgefordert, an ihr Mikro zu kommen. Wilke weigert sich, dort „über Nordstream, Putin und die Ampel zu diskutieren“. Er befürchtet: „Ich wäre nach zwei Sätzen vermutlich nicht mehr zu verstehen.“ Auch aus den Kämpfen seiner eigenen Partei, die in Frankfurt ohne viel Zulauf Dienstagsdemos veranstaltet hat, hält er sich heraus.

Es fehle schlicht die Zeit in der sich verschärfenden Krise. „Ich muss für Frankfurt, für die Verwaltung, für die Bürgerinnen und Bürger da sein“, sagt er.

Vor allem in den östlichen Bundesländern, aber auch in westdeutschen Großstädten wie Frankfurt und Köln, wird wieder demonstriert, mal sind es einige Hundert, mal mehrere Tausend Menschen, die es auf die Straße drängt. Allein in Sachsen gab es am Montag mehr als 100 Umzüge, in Brandenburg 46, in Sachsen-Anhalt 44. Vielerorts erinnert das Geschehen in der Dämmerung an die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen vor einem Jahr, mit den gleichen Gegnern – die Regierung, das System - nur unter neuen Flaggen. Oft, wie in Frankfurt (Oder), werden auch die jetzigen Proteste organisiert und beworben von den altbekannten Gruppen in den sozialen Netzwerken.

In Frankfurt läuft der AfD-Stadtchef Wilko Möller mit, er tritt kurz ans Mikrofon und bedankt sich, dass er dabei sein darf. Er bekommt sehr freundlichen Applaus.

Aber es sind nicht nur die üblichen Verdächtigen von rechts außen, die mit einer neuen Themenmischung größeren Zulauf bekommen könnten als je zuvor. Es sind die Linkspartei und einzelne Gruppen aus ihrem Umfeld, bislang aber gehemmt von innerer Zerrissenheit. Und so sind es vor allem auch Handwerker und Gewerbetreibende, die zu eigenen Protesten aufrufen, getrieben von ihren existenzgefährdenden Gasrechnungen. Unterstützt werden sie an einigen Orten von zunehmend ratlosen Kommunalpolitikern.

Beobachtung durch den Verfassungsschutz

„Der Verfassungsschutz sieht genau hin, ob der legitime Protest von Demokratiefeinden gekapert wird“, sagt Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Einen „heißen Herbst“ sähe der Dienst „aktuell aber noch nicht“. Jedoch: „Der Ton bei solchen Veranstaltungen wird aggressiver. Die Stimmung heizt sich auf, und das könnte auch noch weiter zunehmen.“ Haldenwang erwartet „wie bei den Corona-Demonstrationen Protestgeschehen in ganz Deutschland, aber mit unterschiedlichem regionalen Mobilisierungspotential und Schwerpunkten“.

Wer beherrscht die Wut, die Verzweiflung? Die Frage stellt sich vielleicht nirgendwo so dringend wie in der sächsischen Provinz. Denn dort gibt es spätestens seit dem vergangenen Pandemie-Winter eine feste Demo-Routine - maßgeblich organisiert von den „Freien Sachsen“, einer Kleinstpartei, die der Landesverfassungsschutz als rechtsextrem einstuft. Rolf Schmidt ist parteiloser Oberbürgermeister von Annaberg-Buchholz, einer Kleinstadt im Erzgebirge, und er sagt, ihm sei natürlich klar, wer da gerade versuche, die Meinungsherrschaft über die Energie- und Sozialkrise zu bekommen. „Aber was passiert, ist dramatisch“, sagt er, und meint die nach oben schießenden Energiekosten und die seiner Meinung nach unzureichende Reaktion der Berliner Politik darauf.

„Falsche Götter“

Alles reden, alles Briefe schreiben habe nichts gebracht - deswegen protestierte Schmidt am Dienstagabend selbst: auf einer Demonstration, zu der mehr 90 Unternehmerinnen und Unternehmern der Region aufgerufen hatten. „Es ist Druck auf dem Kessel“, sagt Schmidt zu seiner Teilnahme. Er wolle versuchen, zu steuern, wo dieser sich entlade. „Denn wenn wir dafür kein Ventil finden, dann gehen die Menschen zu den falschen Göttern.“

Wird das funktionieren? Der Protest in Annaberg-Buchholz, er könnte eine der Reaktionen der Zivilgesellschaft auf die rechte Demo-Hegemonie in Sachsen sein, die Landesverfassungsschutzpräsident Dirk-Martin Christian in einem Interview mit der „Leipziger Volkszeitung“ eingefordert hatte.

So oder so, Rolf Schmidt hat ein Problem: Die „Freien Sachsen“ wollen es so aussehen lassen, als würde der Oberbürgermeister von Annaberg-Buchholz mit ihnen gemeinsame Sache machen - sie werben mit seinem Protest in ihren Kanälen in den sozialen Netzwerken und melden einfach eine eigene Kundgebung direkt neben seiner an. Schmidt sagt, er verwehre sich gegen jede Vereinnahmung. „Aber ich möchte mich auch nicht dafür entschuldigen, dass ich mich vor meine Unternehmer und meine Bürgerschaft stelle.“

In Stralsund in Vorpommern ruft die bürgerliche Stadtratsfraktion „Bürger für Stralsund“ für kommenden Mittwoch erneut zur Demonstration auf. Bei der Premiere vergangene Woche kamen 3500 Menschen, darunter Oberbürgermeister Alexander Badrow (CDU) Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Privatperson“, denn die Kommunalaufsicht bemängelt, dass er den Demoaufruf auf seinem (nicht offiziellen) Facebook-Profil geteilt hat.

Kritik an Regierung

„Es herrscht eine extreme Unzufriedenheit in unserer Region“, sagt Badrow im Gespräch mit dem RND. Er kritisiert: „Die Bundesregierung hat keine Idee, wie die massiven Probleme kurz-, mittel- und langfristig gelöst werden können. Einen Plan, wie das Land aus der Krise herauskommen soll, scheint es nicht zu geben. Das weckt Ängste und treibt die Leute auf die Straße.“

Auf dem Marktplatz sei „ein bürgerliches Publikum“ versammelt gewesen: „Handwerker, Einzelhändler, Gastronomen und viele Menschen, die Angst haben, ihre Familien bald nicht mehr ernähren zu können“, sagt Badrow. „Aus dem politischen Spektrum gab es Redner von SPD, FDP und Linken. Im Publikum mögen auch einzelne Rechte dabei gewesen sein.“

Badrow muss jetzt einen Termin bei Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) machen. Die Bürgerschaft seiner Hansestadt hat nach der Demonstration mit großer Mehrheit beschlossen, einen Gas- und Strompreisdeckel und den Verzicht auf die Gasumlage zu fordern. Wenn Badrow nach Berlin kommt, könnte das von den Ereignissen bereits überholt sein.

Doch der „heiße Herbst“ werde damit nicht in sich zusammenfallen, befürchtet er. „Die kurzfristigen Hilfen, wenn sie jetzt kommen, werden die Sorgen nicht verschwinden lassen. Die Unzufriedenheit ist so stark geworden, die Leute wollen wissen, wo das Land eigentlich hinsteuert.“

In Stralsund scheinen die bürgerlichen Unzufriedenen wirklich die Oberhand zu behalten. Autohäuser und Geschäfte schließen mittwochs früher, damit die Angestellten zur Demo gehen können. Und anderswo? Landauf, landab, zumindest im Osten, melden sich auch Kreishandwerkerschaften und Innungen mit Kommentaren zum Krieg und Appellen an die Bundesregierung zu Wort.

In Dessau in Sachsen-Anhalt riefen die Handwerker selbst zur Demo gegen die Russland-Sanktionen auf, 4500 Menschen kamen. Treibende Kraft war Karl Krökel, der 73-jährige Chef der Kreishandwerkerschaft. Wobei Krökel ein spezieller Akteur ist. Aus seiner Sicht auf die Dinge macht er keinen Hehl: „Ich bin mit 25 Jahren in die SED eingetreten und habe meine politische Haltung nie geändert“, sagt er dem RND – auch wenn er sich 2014 nach einem Gespräch mit Hans-Olaf Henkel einmal für die AfD auf die Kommunalwahlliste setzen ließ.

Lob für Wagenknecht

Jetzt lobt er besonders Sahra Wagenknechts These vom „Wirtschaftskrieg gegen Russland“. Profitieren vom Krieg in der Ukraine würden am Ende nur die Amerikaner, meint Krökel.Dass so jemand die Aufmerksamkeit von Jürgen Elsässer auf sich zieht, liegt nahe. Der Chef des vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften „Compact-Magazins“ träumt seit Jahren von der Querfront zwischen links und rechts. Krökel hat für Samstag eine Handwerker-Demo am Berliner Alexanderplatz angemeldet – Elsässer trommelt unter dem Slogan „Handwerker stehen auf“ dafür. Krökel sagt, er habe Elsässer nur ein Interview gegeben, eine Zusammenarbeit abgelehnt. Nun versucht er sich zu distanzieren.

„Ich habe das unterschätzt“, sagt Krökel. „Ich bin Kreisliga, wollte Bundesliga spielen. Berlin wird die letzte Demo sein, die ich anmelde.“

Im Oderturm in Frankfurt hat Oberbürgermeister René Wilke zur Pressekonferenz geladen. Die Stadt weitet ihre Sozialberatungen aus, gibt er bekannt. In den kommenden Monaten könnten viele Menschen, die zurzeit noch knapp über den Bedarfssätzen für Sozialleistungen liegen, unter diese Grenzen rutschen, wegen der höheren Abschläge und des neuen, höheren Bürgergelds. Er wirbt dafür, dass die Menschen rechtzeitig die Anträge stellen. Zwei Dinge trieben die Menschen auf die Straße, sagt Wilke: Unsicherheit und Unzufriedenheit. Beim Ersteren könne die Stadt abhelfen. Beim zweiten nur hoffen.