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Ex-FC-Star Wolfgang Overath erinnert sichSo lief das Fußballspiel des Jahrhunderts ab

Lesezeit 6 Minuten

Großer schwarzer Kragen, strahlend weißer Stoff: Wolfgang Overath in dem Trikot, das die deutsche Mannschaft bei der WM 1970 in Mexiko trug. 

  1. Vor 50 Jahren spielten Deutschland und Italien ein faszinierendes Halbfinale bei der WM in Mexiko. Italien gewann mit 4:3.
  2. Ex-FC-Star Wolfgang Overath, der damals auf dem Spielfeld stand, erinnert sich exklusiv für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ noch einmal an ein Spiel, das für viele das Fußballspiel des Jahrhunderts ist.

Köln – Die Sonne brennt heiß vom Himmel, als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft von Bundestrainer Helmut Schön im Azteken-Stadion von Mexiko-City antritt. Um 17 Uhr am Nachmittag, vor 102 000 Zuschauern im WM-Halbfinale gegen Italien. Die Luft ist dünn, denn die Metropole liegt auf einer Höhe von 2250 Metern, bis zu 50 Grad wird das Thermometer an diesem 17. Juni 1970 anzeigen. In der Bundesrepublik Deutschland sitzen gleichzeitig etwa 35 Millionen der 60 Millionen Bürger vor ihren Fernsehgeräten, um das Geschehen im fernen Mittelamerika zu verfolgen. Zwar ist es die erste WM, die in bunten Bildern übertragen wird. Hall und Knistern in der Tonleitung sind bei Liveüber-tragungen in den Anfängen des kommerziellen Fußballs aber noch Standard.

Für die Zuschauer in Europa, wo das Spiel, das an einem Mittwoch stattfindet und wegen der Zeitverschiebung erst um 23 Uhr beginnt, wird es eine lange Nacht. Denn in Mexiko spielt sich ein monumentales Fußballdrama ab. Die deutsche Mannschaft um Kapitän Uwe Seeler und Regisseur Wolfgang Overath vom 1. FC Köln gibt alles – und verliert dennoch mit 3:4 nach Verlängerung. Das Halbfinale wird im Land des inzwischen viermaligen Fußball-Weltmeisters Deutschland trotz der Niederlage als „Jahrhundertspiel“ in die Historie eingehen. „La partita del secolo“ nennen es ihrerseits die Italiener, die ebenfalls viermaliger WM-Sieger sind.

Ein Treffen der großen Stars

Overath, damals mit 26 Jahren in der Blüte seiner Karriere, spielte in Mexiko in allen Partien für das DFB-Team. In diesen Tagen, in denen das Jahrhundert-Spiel ein halbes Jahrhundert alt wird, hat er oft an das Turnier gedacht. Auch weil er daran erinnert wurde. „Für mich ist Mexiko die beste WM, die es jemals gab“, sagt der 76-Jährige, der auch 1966 in England, wo die DFB-Auswahl Rang zwei belegte, und 1974 beim Titelgewinn in Deutschland dabei war. Mexiko sei ein Treffen der Stars gewesen: „Charlton, Pelé, Jairzinho, Rivera, Riva, Beckenbauer, Müller und so weiter.“ Und natürlich war auch er selbst ein Star. Overaths eleganter, kreativer Spielstil, faszinierte die Mexikaner. Der Zehner aus Köln, in Mexiko mit der Nummer zwölf auf dem Rücken, war die lebende Antithese des weit verbreiteten Klischees, dass deutsche Fußballer allein mit Kampfkraft, nicht ausgefeilter Technik brillierten.

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„Wir gehörten zu den Favoriten, Italien auch“, erinnert sich Overath weiter. „Die Begeisterung für dieses Duell war schon vorher unerhört groß. Und dann wurde es ein Spiel, in dem es hin und her ging, das keiner eindeutig beherrschte. Da machte Karl-Heinz Schnellinger den Ausgleich, dann der Gerd Müller ein Tor, die Italiener waren die Glücklicheren, nicht die Besseren, wir waren gleichwertige Mannschaften. Es wird zurecht Jahrhundertspiel genannt.“

Jeder gut gebildete Fußball-Enthusiast kann den Verlauf der Partie rezitieren: Nach dem 1:0 Roberto Boninsegnas in der siebten Minute gleicht der deutsche Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger vom AC Mailand in der 90. Minute aus. „Ausgerechnet Schnellinger“, wie Ernst Huberty in der ARD kommentiert. In der Verlängerung folgt das 2:1 durch Gerd Müller (95.), den Torschützenkönig von Mexiko. Dann das 2:2, erzielt von Tarcisio Burgnich (99.). Luigi Riva schießt das 3:2 (104.), Müller das 3:3 (109.), bevor Gianni Rivera der italienische Siegtreffer glückt (111.).

Schnellinger, heute 81 Jahre alt, lebt mit seiner Frau in der Nähe von Mailand. Sein Tor im Jahrhundertspiel verfolgt ihn. „Natürlich werde ich darauf angesprochen“, sagt Schnellinger, der 1962 deutscher Meister mit dem 1. FC Köln war. „Sonst hätte man mich wahrscheinlich schon vergessen. In Deutschland bestimmt, auch hier in Italien vielleicht. Hier bekomme ich das immer wieder vorgeworfen, im guten, lustigen Sinne.“

Beckenbauers verletzter Arm

Und dann war da noch das Drama um den 24 Jahre alten Franz Beckenbauer, der sich im Spiel den rechten Arm mit Klebeband am Körper fixierte. Denn nach einem schweren Foul von Pierluigi Cera, das nicht geahndet wurde, musste er 50 Minuten lang mit dem Handicap einer Schultereckgelenksprengung spielen, da nicht mehr gewechselt werden konnte. Sein Einsatz beeindruckte sogar Italiens Rivera: „Wie sich Franz Beckenbauer wegen seiner Schulterverletzung mit Armschlinge über den Platz gekämpft hat, imponierte mir ungemein“, sagt der 76-Jährige in einem „kicker“-Interview anlässlich des Jubiläums. Und weiter: „In der Kabine war uns klar, dass keine normale Partie hinter uns lag.“

Ausgerechnet Schnellinger: Der ehemalige Verteidiger des 1. FC Köln, damals in Diensten des AC Mailand, erzielt das 1:1.

Ahnte auch Overath, als er in Mexiko-City als Verlierer vom Platz des Aztekenstadions ging, dass dieses Halbfinale ein außergewöhnliches Fußball-Ereignis war? „Ich dachte mir schon, dass es ein besonderes Spiel war“, sagt er. „So viel Dramatik erlebt man ganz selten.“ Es sei kein Wunder, dass die Partie heute immer noch ab und an in voller Länge im Fernsehen gezeigt werde. „Wir haben damals, glaube ich, für Deutschland Beachtliches hingelegt. Die Mexikaner standen hinter uns.“ Und auch sie erinnern sich immer an das Spiel. An der Fußball-Arena der Hauptstadt gibt es eine Gedenktafel, auf der steht: „Das Aztekenstadion ehrt die Nationalmannschaften von Italien (4) und Deutschland (3), Protagonisten des Jahrhundertspiels bei der WM 1970, 17.Juni 1970.“

Wer sich das Spiel in voller Länge ansieht und nicht allzu viel mit Fußball-Pathos am Hut hat, wird vielleicht ketzerisch anmerken, dass der Fußball 1970 langsam und behäbig anmutete. Und dass manche Profis gar nicht wie austrainierte Sportler aussahen. Derlei Bemerkungen lassen Overath kalt: „Wir haben sehr guten Fußball für die damalige Zeit gespielt. Natürlich nicht mit dem Tempo von heute“, meint er. „Die großen Spieler von früher wären heute genauso große Spieler. Sie würden heute anders spielen und trainieren. Von ihrem Talent und ihrem Vermögen her waren sie damals überragend und wären es nach meiner Meinung auch heute noch.“ Natürlich spreche er hypothetisch. „Denn ich kann ja den alten Pelé nicht in ein heutiges Spiel stellen, um es zu beweisen.“

Versöhnliches Ende dank Overath

Für die deutsche Mannschaft endete die WM in Mexiko mit einem Erfolgserlebnis. Sie erkämpfte sich im Spiel um Platz drei mit letzter Kraft und einem Tor von Overath ein 1:0 gegen Uruguay. Die ausgelaugten Italiener verloren ihr Endspiel sang- und klanglos mit 1:4 gegen die von Pelé angeführte brasilianische Selecao, die den dritten ihrer inzwischen fünf WM-Erfolge feierte.

Gerd Müller (M.) versucht, sich gegen zwei Italiener zu behaupten.

„Es zählt im Fußball immer nur der erste Platz, den zweiten und dritten, den vergessen die Leute normalerweise. Das ist brutal, aber es gehört zum Fußball.“, sagt Overath. Deshalb sei es so außergewöhnlich, dass das mexikanische Halbfinal-Drama auch 50 Jahre später noch ein großes Thema sei: „Das Jahrhundertspiel ist eine Ausnahme. Man sieht ja, dass die Leute es auch heute noch im Kopf haben.“