Im März 2022 hat Julian Assange, Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh seine Anwältin Stella Moris geheiratet. Assange soll einen Rock der Modedesignerin Vivienne Westwood getragen haben, Fotos waren nicht erlaubt, die britische Yellow Press befasste sich trotzdem mit dem schottischen Kilt und vermutete einen Hinweis auf die schottischen Ursprünge von Assanges Familie. Ihre Hochzeit sei „keine Gefängnishochzeit“, schrieb Moris, „es war eine Liebes- und Widerstandserklärung den Mauern zum Trotz“.
Neben dem Boulevard nahmen einige Zeitungen die Nachricht in einer Spalte auf ihrer Unterhaltungsseite auf. Über die Meldung vier Wochen später, als die britische Justiz Assanges Auslieferung an die USA formell erlaubte, wurde kaum ausführlicher berichtet. Dabei steht mit seiner Auslieferung und angedrohten 175 Jahren Haft die Zukunft der Informationsfreiheit auf dem Spiel.
Mehr als zehn Millionen Geheimdokumente veröffentlicht
Auf seiner Internet-Plattform hatte Julian Assange einst US-Militärdokumente von den Einsätzen in Afghanistan und dem Irak veröffentlicht, die die Whistleblowerin Chelsea Manning besorgt hatte – und die schwere Kriegsverbrechen belegen. Wikileaks hat mehr als zehn Millionen Geheimdokumente veröffentlicht, an deren Echtheit es nie einen Zweifel gab. Assange galt als einflussreichster Journalist und Politaktivist der Welt. Jeden Staat, jeden Politiker, jeden Konzern, der etwas zu verbergen hatte, lehrte er das Fürchten – immerhin hat er ihren Anspruch auf exklusives Wissen und Geheimhaltung entzaubert.
Belangt wurden bislang nur sehr wenige Straftaten, die Wikileaks ans Licht brachte. Assange sitzt seit drei Jahren im Gefängnis und könnte bald an die USA ausgeliefert werden – wo ihn 175 Jahre Haft erwarten würden. Kriminelle Handlungen zu veröffentlichen ist – so scheint es – zu strafbarem Handeln geworden. Assange leidet unter Depressionen, bekam mitten im Prozess einen Schlaganfall und gilt als suizidgefährdet.
Wie kam es dazu?
Im Jahr 2010 veröffentlicht Wikileaks so viele brisante Dokumente wie nie zuvor – darunter das Video „Collateral Murders“ aus einem Apache-Kampfhubschrauber, auf dem zu sehen ist, wie zwölf Zivilisten, darunter zwei Journalisten, erschossen werden, sowie ein umfassendes Kriegstagebuch aus Afghanistan, wonach 66.000 von 109.000 Kriegsopfern Zivilisten waren.
Im Herbst 2010 kommen in Schweden Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn auf. Sein damaliges Gastland Großbritannien bereitet sich auf eine Auslieferung nach Schweden vor, Assange flüchtet im Juni 2012 in die Botschaft von Ecuador in London. Dort lebt er fast sieben Jahre lang auf 20 Quadratmetern, bis er im April 2019 wegen vermeintlichen Verstoßes gegen Kautionsauflagen in Belmarsh inhaftiert wird. In dem aus James-Bond-Filmen bekannten Hochsicherheitsgefängnis sitzt er bis heute ein.
Ein Bild staatlicher Kriminalisierung
Der Schweizer Völkerrechtler Nils Melzer hat sich als UN-Sonderberichterstatter für Folter akribisch mit den Hintergründen des Falls befasst. „Nach anfänglichem Zögern, weil ich wie so viele Zweifel an Assanges Charakter hatte.“ Sein Buch „Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung“ zeichnet das Bild staatlicher Kriminalisierung, psychologischer Folter und Willkür von anerkannten Rechtsstaaten.
Auf die Bitte um ein Gespräch schreibt Melzer zurück, er habe doch längst alles gesagt. Schließlich meldet er sich doch – kurz bevor er am 1. Mai seinen neuen Job als Direktor für Völkerrecht beim Internationalen Roten Kreuz antritt. Der Fall habe ihn desillusioniert, sagt er immer wieder. Er sehe jetzt realistischer, „dass die Selbstwahrnehmung westlicher Rechtsstaaten zum Teil stark verzerrt ist“. Der Fall Assange sei für ihn „ein Schlüsselloch gewesen, durch das ich die Realität diese Welt hinter den Kulissen kennengelernt habe. Seitdem ist mir auf Schritt und Tritt bewusst, wie es wirklich läuft“.
Was das heiße?
„Die Unwilligkeit der westlichen Demokratien, im eigenen Garten für Ordnung zu sorgen, ist die große Enttäuschung für mich über das ganze Mandat hinweg“, sagt Melzer. Die westlichen Rechtsstaaten funktionierten zwar in vielen Fällen. „Aber es ist auch so: Wenn ich mal ein wirkliches Problem habe, ist wie bei Assange fast kein Unterschied zu Staaten wie Syrien oder dem Iran festzustellen. Die Vertreter der Staaten werden dir zwar immer freundlich antworten, aber immer mit Ausflüchten: Leider ist es anhängig bei einem Gericht, und wir mischen uns nicht in die Rechtsangelegenheiten anderer Länder ein.“ Im Resultat geschehe: Nichts.
„Natürlich soll an Assange ein Exempel statuiert werden“, sagt Melzer. „Würde man ihn nicht verfolgen, gäbe es im Internetzeitalter irgendwann Hunderte Wikileaks. Das wäre vielleicht im Interesse der Demokratie, aber nicht im Interesse von Geheimdiensten.“
Viele Menschen teilen Melzers Sicht der Dinge. Assange hat Tausende Unterstützer. Amnesty International und Reporter ohne Grenzen fordern beständig seine Freilassung, in der Botschaft von Ecuador gaben sich Stars wie Lady Gaga, Pamela Anderson oder Vivienne Westwood die Klinke in die Hand. Für einen Mann, der der Vergewaltigung bezichtigt wurde (die Vorwürfe sind längst fallen gelassen worden), hat Julian Assange erstaunlich viele weibliche Unterstützerinnen.
Alice Schwarzer von Assanges Mut beeindruckt
Sie sei von Beginn „von Assanges Mut tief beeindruckt“ gewesen, sagt die Kölner Publizistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer. „Dass er es gewagt hat, die Kriegsverbrechen öffentlich zu machen, war und ist großartig und bitter nötig.“ Als die Vorwürfe der Vergewaltigung aufkamen, sei sie „sofort misstrauisch“ gewesen.
„Mein Engagement gegen sexuelle Gewalt ist bekannt, aber auch solche Vorwürfe lassen sich missbrauchen. Mir scheint es kein Zufall, dass das Thema just in einem Moment auftauchte, in dem die USA seiner habhaft werden wollte.“ Sie halte die Image-Schädigung von Assange „für keinen Zufall. So demontiert man Helden, wenn man ihnen nicht sachlich ans Zeug kann. Dann degradiert man sie moralisch“.
Angela Richter ersteigert ein Essen mit Assange
Die Berliner Theaterregisseurin Angela Richter hat Assange in der ecuadorianischen Botschaft mehr als 20 Mal besucht und interviewt. „Ich hatte einiges darüber gelesen, dass Assange ein Narzisst sei, der nicht mit Menschen umgehen kann. Dann kamen die Vergewaltigungsvorwürfe auf. Ich wollte mir selbst ein Bild machen – und am liebsten ein Theaterstück über ihn und Wikileaks machen“, sagt sie.
Richter ersteigerte auf Ebay ein Essen mit Assange und dem Philosophie-Star Slavoj Žižek in London – Wikileaks brauchte Geld, da der Organisation nach den Vorwürfen gegen Assange die Spendenkonten blockiert worden waren. Sie traf auf einen „schüchternen, fast scheuen Mann, dem das ganze Szenario suspekt vorkam“: fünf Frauen hatten das Gala-Dinner ersteigert, „zwei von ihnen trugen kurze Röcke und High-Heels und machten keinen Hehl daraus, dass sie für Assange alles aufgeben würden“. Richter trug ihr Anliegen vor, rechnete nicht mit einer Zusage Assanges, ihr für Recherchegespräche zur Verfügung zu stehen – und erhielt sie doch.
Richter kennt Assange besser als die meisten Journalisten. Das Bild des übergriffigen Egomanen hat sie bei den nächtelangen Gesprächen in der Botschaft nicht bestätigt gefunden. Im Gegenteil: „Assange ist ein äußerst prinzipientreuer Mensch, dem es immer nur um die Sache geht“, sagt sie. Dafür spreche auch, dass er ein Asyl-Angebot des russischen Staates während seiner Zeit in der Botschaft wie selbstverständlich abgelehnt habe. „Er ließ sich nicht korrumpieren“, sagt sie. „Asyl in einem autokratischen Staat wäre keine Option für ihn gewesen.“ Ein kolportiertes Angebot des damaligen US-Präsidenten Trump, Assange nicht länger zu verfolgen, wenn er offenlege, dass von Wikileaks veröffentlichte Informationen zu internen Mails der demokratischen Partei, die Hillary Clinton im Wahlkampf geschadet hatten, aus Russland kämen, lehnte Assange ebenso ab. Freilich polarisierte er mit den Veröffentlichungen der so genannten DNC-Leaks und seiner beißenden Kritik an Clinton. „Es hätte ihm wohl niemand zu der Veröffentlichung vor der Präsidentschaftswahl geraten“, sagt Angela Richter. „Aber wenn Assange von etwas überzeugt ist, dann ist er beratungsresistent.“
Assange hat das Asperger Syndrom
Viel zu selten sei öffentlich beschrieben worden, dass Julian Assange das Asperger Syndrom hat. „Das ist wohl eines der Probleme zwischen der Welt und Julian Assange. Er kann sich nicht verstellen, er kann nicht lügen, er sagt immer, was er denkt, er ist auch deswegen wahnsinnig mutig – und stößt viele Menschen vor den Kopf, weil er keine Etiketten kennt“, sagt Richter. In gewisser Weise ähnle er im Verhalten der Klimaaktivistin Greta Thunberg. „Auch Assange hat wenige Social Skills, er legt wenig Wert auf Smalltalk und Höflichkeitsfloskeln.“ Dass die Öffentlichkeit sich auf seine menschlichen Fehler gestürzt habe, sei „die Entschuldigung dafür, dass man nicht hingeguckt hat, was er veröffentlicht hat“.
Angela Richter lässt der Fall nicht los. Das Stück „Assassinate Assange“ führt sie auch am Kölner Schauspiel auf. Sie spricht mit den wichtigsten Whistleblowern der Welt und veröffentlicht ein Buch über sie („Supernerds“), momentan arbeitet sie an einem Theaterstück über die Folgen von digitalem Medienkonsum und Überwachung, das in Bonn uraufgeführt wird.
Fall löst posttraumatische Belastungsstörung aus
Die Menschen aus Assanges innerem Zirkel beschreibt Richter als Gemeinschaft, die Gefühle von Ohnmacht und Einsamkeit eine. Der Fall Assange habe ihre eigene Perspektive auf die Welt „verdüstert“, sagt Richter. „Vorher war ich ein leichterer, unbeschwerterer Mensch.“ Eine Psychologin habe zwischenzeitlich ein posttraumatisches Belastungssyndrom bei ihr diagnostiziert. „Über Jahre so einen Fall zu verfolgen, sei traumatisierend, sagte sie mir. Es ist desillusionierend, sein Vertrauen in den Rechtstaat zu verlieren.“
Als Nils Melzer im Januar 2020 in einem langen Gespräch mit der Schweizer Plattform „Republik“ der britischen Justiz Rechtsbeugung und Folter vorwirft, verändert sich ein Narrativ, das sich längst auf den vermeintlich übergriffigen Egomanen Julian Assange fokussiert hat.
Viele Medien berichten jetzt wieder kritisch. In Deutschland werden die Rufe nach einer Freilassung Assanges lauter, als der Kölner Investigativjournalist Günter Wallraff auf einer Bundespressekonferenz mit dem ehemaligen Innenminister Gerhart Baum und dem früheren Außenminister Sigmar Gabriel im Sommer 2021 einen offenen Brief an die damalige Kanzlerin Angela Merkel vorstellt. In dem Aufruf fordern 120 Prominente, darunter Alice Schwarzer, Navid Kermani, der damalige SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans, viele ehemalige Minister und auch Robert Habeck, seinerzeit Vorsitzender der Grünen, die Kanzlerin auf, sich für die Freilassung Assanges starkzumachen. Merkel äußert sich nicht.
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition steht auf Seite 146: „Zivilgesellschaften – insbesondere Journalistinnen, Aktivisten, Wissenschaftler und andere Menschenrechtsverteidiger – sind unverzichtbar für den Aufbau und Erhalt funktionierender Gemeinwesen. Wir verpflichten uns, diese Menschen und ihre Arbeit in besonderer Weise zu stärken und zu schützen, auch bei grenzüberschreitender Verfolgung.“
Auch Baerbock forderte Assanges Freilassung
Bevor sie Teil der Regierung wird, fordert auch Annalena Baerbock öffentlich die Freilassung Assanges. Als sie Außenministerin wird, sagt Baerbock in eine Kamera, sie müsse „die Hintergründe des Verfahrens erst prüfen“. Wenn man jetzt über die Pressestelle des Auswärtigen Amtes anfragt, ob sie die Hintergründe des Verfahrens inzwischen geprüft habe, kommt: keine Antwort. Habecks Ministerium verweist auf eine Antwort auf eine Anfrage zu Assange im Bundestag, in der es heißt, die Bundesregierung mische sich „nicht in britische Justizangelegenheiten ein“.
„Es wäre naiv zu glauben, die Grünen würden sich als Regierungspartei diplomatischen Zwängen nicht beugen“, sagt Alice Schwarzer. „Dennoch würde ich mir gerade von einer rotgrüngelben Koalition mehr Mut im Fall Assange wünschen und ein klares Wort für ihn.“
Schwarzer hält Auslieferung für ein Desaster für die Pressefreiheit
Enttäuscht ist Schwarzer auch von vielen Medien: „Sie haben sehr von Assanges Enthüllungen profitiert und damit Auflage gemacht - jetzt sollten sie gefälligst auch zu ihm stehen!“, sagt sie. „Seine Auslieferung an die USA wäre ein Desaster für die Pressefreiheit.“
Vielen Außenstehenden ist nicht klar, was mit dem Fall Assange auf dem Spiel steht. Weil digitale Überwachung schwer nachvollziehbar ist, geben wir unsere Daten bereitwillig an Plattformen wie Google oder Facebook. Wenn Konzerne und Regierungen indes ein Informationsmonopol haben, sind sie nicht mehr kontrollierbar. Plattformen wie Wikileaks gewährleisten eine Informationsfreiheit, die im Digitalzeitalter mehr denn je eine Erosion der Demokratie verhindert. Durch Datenlecks und mutige Menschen, die diese veröffentlichen, erfährt die Öffentlichkeit auch Hintergründe über Kriegsverbrechen wie jene, die aktuell in der Ukraine verübt werden.
Nils Melzer sagt, dass es „natürlich auch Gesetze braucht, um gewisse Arten von Leaks strafbar zu machen. Es darf nicht alles erlaubt sein“. Niemals dürften durch Veröffentlichungen Menschen gefährdet werden. Wenn aber statt der Kriegsverbrecher die Menschen verfolgt werden, die Belege für Kriegsverbrechen veröffentlichen, „gefährdet das unsere Demokratie“.
Was bedeutet der Fall Assange für die Rechte von Journalisten? Die Rechte von jedem, der sich politisch frei äußern möchte? „Schon jetzt trauen sich viele Journalisten nicht mehr, so zu arbeiten, wie Assange das getan hat“, sagt Nils Melzer. Das müsste eigentlich jeden alarmieren. Denn: „Ohne freie Information funktioniert Demokratie nicht.“