Die Krankenkassen verlangen nicht nur bei der Regelung der Terminvergabe einen gesetzlichen Eingriff, um eine Benachteiligung zu verhindern.
GKV Vize-Chefin im InterviewGesetzlich Versicherte dürfen bei Terminvergabe nicht diskriminiert werden
Stefanie Stoff-Ahnis ist stellvertretende Vorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen. Die 48-jährige Juristin ist in dem Verband, der die aktuell 95 Krankenkassen vertritt, für die Bereiche ambulante Versorgung, Krankenhäuser und Arzneimittel zu ständig.
Frau Stoff-Ahnis, zum Jahresanfang steigen die Beiträge in der Krankenversicherung so stark wie seit mindestens 50 Jahren nicht mehr. An Warnungen mangelte es nicht. Hat Gesundheitsminister Lauterbach versagt?
Der Gesundheitsminister hätte einen Kurswechsel vornehmen müssen: Zwar war es richtig, Strukturreformen anzugehen, allerdings greifen diese erst in einigen Jahren. Er hat es versäumt, sich in dieser Wahlperiode um die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung im hier und jetzt zu kümmern. Dafür trägt er die politische Verantwortung.
Das muss man klar so sagen. Allerdings nicht er allein. Seit mehr als 10 Jahren waren alle Ressortchefs insbesondere darin stark, das Geld der Versicherten mit vollen Händen auszugeben, ohne das Gesundheitswesen für die Zukunft vorzubereiten.
Wer war in dieser Hinsicht der Schlimmste?
Alle waren daran beteiligt. Und nun stehen wir vor einer historischen Beitragserhöhung, weil die Politik es versäumt hat, die guten Jahre für Reformen zu nutzen und das Gesundheitswesen auf schlechte Zeiten vorzubereiten: Die Konjunktur lahmt, die Preise sind stark gestiegen und die Kassen wurden von der Politik auch noch gezwungen, ihre Rücklagen abzubauen.
Es geht ja inzwischen nicht mehr nur um den effizienten Einsatz der Beitragsgelder. Angesichts des akuten Fachkräftemangels gilt das umso mehr für das Personal.
Minister Lauterbach suggeriert, die Beitragsentwicklung werde sich wieder beruhigen. Sehen Sie das auch so?
Ganz und gar nicht. Die Ausgaben steigen auch im kommenden Jahr ungebremst weiter, sodass dann weitere Beitragsanhebungen drohen. Um den kritischsten Bereich zu nennen: 2025 werden wir allein durch die Preissteigerungen sieben Milliarden Euro mehr für die Kliniken ausgeben müssen, womit die Ausgaben auf deutlich über 100 Milliarden Euro steigen.
Ab 2026 müssen die gesetzlich Versicherten dann auch noch 2,5 Milliarden Euro jährlich für die Krankenhausreform zahlen, obwohl das eigentlich Aufgabe der Länder ist. Das ist auch aus einem anderen Grund total unsozial: Unsere Versicherten bezahlen damit die Betten, in denen auch Privatpatienten behandelt werden. Und die zahlen: nichts.
Haben Sie noch Hoffnung, dass sich daran etwas ändert?
Wir prüfen eine Klage gegen die Finanzierungsregeln des Transformationsfonds, denn es handelt sich um eine verfassungswidrige Zweckentfremdung von Beitragsmitteln. Die Länder sind klar verantwortlich für die Finanzierung notwendiger Investitionen in die Krankenhausstrukturen und eben auch für deren Umbau.
Was muss eine neue Bundesregierung anpacken, um die Beitragsspirale zu durchbrechen? Und fordern Sie bitte jetzt nicht wieder, dass der Bund kostendeckende Beiträge für Bürgergeld-Beziehende zahlen soll. Das werden wir angesichts der Haushaltslage nicht mehr erleben.
Doch. Genau das ist unsere Forderung. Und da werden wir auch nicht lockerlassen. Es geht immerhin um zehn Milliarden Euro, die die Versicherten und Arbeitgeber zahlen müssen, obwohl es sich um Leistungen des Staates handelt. Würde der Bund das kostendeckend gegenfinanzieren, hätten wir in der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich weniger Probleme.
Was könnte noch kurzfristig wirken?
Genauso ungebremst wie die Krankenhausausgaben steigen auch die Kosten für Medikamente. Sie sind seit 2018 um 40 Prozent auf rund 55 Milliarden Euro gestiegen. Es ist ganz eindeutig, dass die Politik hier handeln muss. Nötig sind neue Regeln für die Festsetzung der Preise in Abhängigkeit vom Nutzen eines Medikaments.
In einem schnell wirksamen Schritt sollte die Politik den Abschlag, den die Hersteller den Kassen geben müssen, wieder um 5 Prozentpunkte auf das Niveau anheben, das im Jahr 2023 galt. Dadurch ließen sich pro Jahr gut 1,3 Milliarden Euro sparen. Das ist gerechtfertigt, weil die gesetzliche Krankenversicherung ein äußerst attraktiver Absatzmarkt für die Pharmaindustrie ist, in dem die Versicherten Arzneimittel sofort nach der Zulassung erhalten können.
Für den ambulanten Sektor wünschen sich Ärzteverbände eine bessere Steuerung der Patientinnen und Patienten. Wie sehen Sie das?
Die Möglichkeit, den Hausarzt in den Mittelpunkt der Versorgung zu stellen, gibt es längst. Für die Koordinierung werden die Mediziner auch bezahlt. Diese Chancen müssen aber auch genutzt werden. Für uns steht aktuell im Mittelpunkt, dass unsere Versicherten überhaupt Termine bekommen.
Wenn sie auf ein Buchungsportal gehen und als gesetzlich Versicherte einen Facharzttermin suchen, bekommen sie einen in 6 Wochen oder noch später angeboten. Klicken sie dagegen „Privatpatient“ an, klappt es schon am nächsten Tag. Die Diskriminierung der gesetzlich Versicherten gegenüber Privatpatienten bei der Terminvergabe werden wir nicht länger hinnehmen.
Was wollen Sie dagegen tun?
90 Prozent der Menschen in Deutschland sind gesetzlich versichert. Da ist es mehr als gerechtfertigt, dass es künftig bei der Terminvergabe zu 100 Prozent um die medizinische Notwendigkeit geht und nicht darum, ob jemand GKV- oder PKV-versichert ist. Wir fordern eine gesetzliche Verpflichtung für alle Arztpraxen, freie Termine tagesaktuell einem Onlineportal zur Verfügung zu stellen.
Anhand dieses Portals können dann insbesondere auch Krankenkassen Termine für ihre Versicherten vermitteln. Damit kann dann ein diskriminierungsfreier Zugang zu den Arztpraxen gewährleistet werden. Wer echte Gleichbehandlung will, sollte dafür sorgen, dass bei der Terminvergabe nicht mehr danach gefragt werden darf, ob jemand gesetzlich oder privat versichert ist. Ich bin gespannt, ob die Parteien dazu im Wahlkampf etwas sagen.
Was ist mit den kommerziellen Anbietern, die schon am Markt sind?
Die kann es parallel weitergeben, sofern sie sich an die notwendigen Regeln halten. Daneben sollten aber eben auch die gesetzlichen Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen Termine vergeben dürfen.
Aber dann melden die Praxen dem neuen Kassenportal vielleicht nur ein paar Alibitermine.
Eine Meldepflicht kann gesetzlich geregelt werden. Es kann festgelegt werden, dass die Praxen ihre freien Termine oder zumindest einen großen Anteil davon an ein solches Portal melden müssen. Wir als Kassen sind mit unseren 75 Millionen Versicherten keine Bittsteller. Die Ärzte sind unsere Vertragspartner und haben den gesetzlichen Auftrag, die medizinische Versorgung unserer Versicherten zu gewährleisten.
Es dürfte angesichts der Finanzlage auch wieder eine Debatte über Leistungskürzungen geben. Wie stehen Sie dazu?
Es ist ausreichend Geld im System. Es ist nur falsch verteilt. Strukturelle Defizite in der Krankenversicherung kann man doch nicht dadurch lösen, dass kranken Menschen Leistungen gestrichen werden.
Es gibt im Übrigen auch genug Personal, aber auch das ist falsch verteilt. Wir haben in Deutschland so viele Pflegekräfte und Ärzte wie noch nie. Und dies, obwohl die Patientenzahlen nach der Corona-Pandemie stark zurückgegangen sind.
Womit wir nochmal bei der Krankenhausreform wären. Sie ist zwar von Bundestag und Bundesrat beschlossen, es fehlen aber noch einige Verordnungen zur Umsetzung. Ist die Reform auf einem guten Weg?
Wir befürchten, dass es nun doch noch zu Abstrichen bei den Qualitätsvorgaben kommt, also etwa bei der Zahl der für bestimmte Eingriffe und Behandlungen vorgeschriebenen Fachärzte. Damit besteht die Gefahr, dass für Kliniken auf dem Land eine geringere Qualität zugelassen wird als für Krankenhäuser in der Stadt. Das wäre gegenüber den Menschen im ländlichen Raum unverantwortlich.
Begründet wird diese unter anderem von der Ärzteschaft und den Ländern vorgetragene Forderung mit dem Argument, dass die Vorgaben wegen der Personalnot gar nicht einzuhalten seien und Kliniken dann dichtmachen müssten.
Das Ziel muss doch eine bestmögliche medizinische Versorgung sein. Wir wissen aus Umfragen, dass die Menschen bereit sind, gerade für notwendige komplexe Eingriffe längere Wege in Kauf zu nehmen. Jemandem über geringere Qualitätsanforderungen praktisch eine schlechtere Behandlung zuzumuten, nur weil er auf dem Land lebt, das ist mit uns nicht zu machen. Abstriche an der Qualität der Behandlung sind inakzeptabel.