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Grünen-Parteitag in NRW„Es muss jetzt darum gehen, das Ende der GroKo einzuleiten“

Lesezeit 4 Minuten

Da geht’s lang: Mona Neubaur (l.), NRW-Chefin der Grünen, mit der Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock auf dem Parteitag in Neuss

  1. Auf dem Landesparteitag in Neuss diskutiert die Partei über die Konsequenzen ihres Erfolgs. Die Erwartungen an die Grünen sind riesig, der Haken: Die Fraktionen sind es aktuell nicht.
  2. Hält der Höhenflug bis zu den Kommunalwahlen 2020 an, werden viele Funktionsträger gebraucht.
  3. „Wir können nicht mehr die Partei sein, die nur dafür da ist, bestimmte Probleme in der Gesellschaft zu lösen“, sagt der Europaabgeordnete Sven Giegold. Wohin steuern die Grünen in Land und Bund?

Neuss – Der wichtigste Delegierte auf dem Landesparteitag der Grünen in der Neusser Stadthalle ist persönlich gar nicht anwesend. Er heißt Demut und übernimmt spätestens nach dem Gastauftritt von Annalena Baerbock am Freitagabend die Regie.

Selbst die Vorsitzende der Bundespartei warnt angesichts der 23,4 Prozent, die Grün bei der Europawahl im Industrieland Nordrhein-Westfalen abgeräumt hat, schon fast eindringlich davor, die Bodenhaftung zu verlieren: „Wenn wir jetzt bequem werden und sagen, es ist alles schon geritzt, dann wird das in ein paar Monaten schon wieder ganz anders aussehen.“

Das dürfte nicht passieren. Dafür wird der Delegierte Demut sorgen. Er steckt in den Köpfen. Er bestimmt die Gespräche auf den Fluren. Er mischt sich in jedes Interview ein. „Wir müssen beweisen, dass sich jetzt auch etwas verändert. Und das in einer Situation, wo wir im Land und im Bund nicht regieren“, sagt der Co-Parteivorsitzende Felix Banaszak.

Große Erwartungen, kleine Fraktion

„Wir sind in beiden Parlamenten die kleinste Fraktion. Aber die Erwartungen an uns sind die an eine 25-Prozent-Partei“, gibt der Kölner Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann zu bedenken. Der „Stresstest für die Partei“ finde auf allen Ebenen statt. Beim wichtigsten, dem Klimaschutz, wissen die Grünen sehr genau, dass sie die Forderungen der „Fridays for Future“-Bewegung in ihrer Radikalität und Kompromisslosigkeit nicht werden erfüllen können. Nach dem Motto: Jetzt macht endlich. Grüner wird’s nicht.

„Es ist ja nicht so, dass diese Bewegung uns gehört“, sagt Lehmann. Diese Ungeduld sei gut, weil sie grundsätzlich Druck in Sachen Klimaschutz erzeuge. Aber natürlich habe die Partei eine andere Rolle als die Bewegung. „Sollten wir jetzt in die Situation kommen und regieren und die Bewegung macht Druck, weil ihr das alles nicht schnell genug geht, dürfen wir nicht sagen: »Ihr habt doch keine Ahnung. Das braucht halt Zeit.«“ Im Dialog bleiben, klarmachen, dass es auch Kompromisse gibt. Auf Augenhöhe bleiben mit der Kritik aus der Gesellschaft, nennt Lehmann das.

Wahlplakat der Grünen für die erste gesamtdeutsche Wahl 1990.

„Da sind ganz große Erwartungshaltungen an uns formuliert“, fasst Felix Banaszak die Erfahrungen zusammen, die er bei einer Podiumsdiskussion in seiner Heimatstadt Duisburg mit Fridays for Future machen durfte. „Die sagen nicht, »Ja geil. Ihr seid eh die Tollsten«“.

Braunkohle-Ausstieg schon abgehakt

Der Braunkohle-Ausstieg sei für ihn schon abgehakt, sagt Ex-Umweltminister Johannes Remmel. Je früher der komme, desto besser. Der Ausstieg allein werde aber nicht reichen, um das Klima zu retten. „Die Königsdisziplin kommt erst noch. Die Industrieproduktion selbst klimafreundlich zu gestalten: Stahl, Papier, Aluminium, Chemie, Zement. Dafür müssen wir jetzt die Rahmenbedingungen schaffen.“ Eine solche Aufgabe habe kein anderes Bundesland zu bewältigen. „Wir bleiben auf dem Teppich, aber er fliegt“, zitiert Remmel den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Soll heißen: Demut ja, ein mulmiges Gefühl darf auch dabei sein, aber Selbstzweifel sind nicht gestattet.

Warum auch? Die Grünen wissen, das von ihnen ein „Vollprogramm“ erwartet wird. „Wir können nicht mehr die Partei sein, die nur dafür da ist, bestimmte Probleme in der Gesellschaft zu lösen“, sagt der Europaabgeordnete Sven Giegold. Dazu gehöre, in Feldern aufzuholen, auf denen den Grünen nicht so viel Kompetenz zugeschrieben werde wie beim Klimaschutz – etwa bei der inneren Sicherheit. „Es muss jetzt darum gehen, das Ende der großen Koalition einzuleiten und Verantwortung zu übernehmen.“

Viel Zeit bis zu den Landtagswahlen

Auf Landesebene wird das aller Voraussicht nach sehr viel länger dauern. Die nächsten Landtagswahlen stehen erst 2022 an. Was nicht heißt, dass die NRW-Grünen nicht schon jetzt Themen setzen und Fehler der Vergangenheit korrigieren wollen. Nach acht Monaten intensiver Arbeit legen sie in Neuss ein neues Bildungskonzept vor, das sich von der Schulpolitik ihrer Ex-Schulministerin Sylvia Löhrmann deutlich unterscheidet. Ihr Festhalten am Turbo-Abitur hatte wesentlichen Anteil an der deutlichen Wahlniederlage und dem Ende der rot-grünen Landesregierung.

Die Grünen wollen die Hauptschule abschaffen, künftig nur noch auf Gymnasien und Gesamtschulen setzen. Das Konzept enthält einen Rechtsanspruch auf kostenlose, hochwertige Ganztagsangebote für Grundschulen sowie die Sekundarstufe I der weiterführenden Schulen – in einem ersten Schritt zumindest für die Klassen 1 bis 6. Außerdem treten die Grünen für „alternative Formen“ der Leistungsüberprüfung ein. Anstelle von Klassenarbeiten könnten etwa Portfolios, Fachreferate, Vorträge oder Präsentationen treten.

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„Mit diesem Beschluss bleiben wir anspruchsvoll, visionär und mutig, aber auch pragmatisch und realistisch“, kommentiert Ex-Schulministerin Löhrmann, die in Neuss als einfache Delegierte ihres Solinger Kreisverbands auftritt, die Korrekturen ihrer eigenen Politik. „Der Prozess war gut für die Partei, für die Sache. Und er ist auch gut für mich.“ Das zeugt nicht nur bloß von Demut, das hat Stil.