New York/Moskau – Es war Ende Februar, als António Guterres seinen dramatischsten Auftritt als UN-Generalsekretär hinlegte. Bei einer eiligst anberaumten Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates angesichts des bevorstehenden russischen Einmarschs in die Ukraine richtete der sonst so nüchtern wirkende Portugiese seinen Blick direkt in die Kamera: „Präsident (Wladimir) Putin, halten Sie Ihre Truppen davon ab, die Ukraine anzugreifen, geben Sie dem Frieden eine Chance“.
Es dauerte nur 30 Minuten, bis ihm ein Mitarbeiter noch während der Sitzung ins Ohr flüsterte, dass der Mann im Kreml gerade den Befehl zur Invasion gegeben hatte. Guterres konnte dem Beginn des Kriegs nur zuschauen. Nun, zwei Monate später, versucht sich der Generalsekretär mit der wohl wichtigsten Reise seiner Karriere aus der diplomatischen Ohnmacht zu befreien.
Erklärtes Ziel: Waffenruhe
Am Dienstag wird der UN-Chef nach einer Visite in der Türkei zunächst Putin im Kreml treffen, bevor er am Donnerstag den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj besucht. Guterres' erklärtes Ziel ist es, eine Waffenruhe zu erreichen. Es müssten „dringende Schritte“ zur Herstellung von Frieden herbeigeführt werden, ließ er zuletzt mitteilen - darüber hinaus hielt er sich aber bedeckt zu seiner Rolle als Vermittler. Sein Fokus dürfte aber auch auf Fluchtwegen für Zivilisten und der Sicherstellung humanitärer Hilfe liegen.
Wie viel Guterres bewegen kann, ist für Richard Gowan, UN-Experte für den Thinktank Crisis Group, fraglich. Nachdem sich der Generalsekretär lange verschätzt hatte und bis kurz vor Kriegsbeginn noch immer sicher war, dass Putin keinen Einmarsch riskieren werde, sprach er sich in der Folge ungewöhnlich scharf gegen Moskau aus. Alleine die Tatsache, dass Putin ihn nun empfangen wird, sei deshalb schon ein Erfolg, so Gowan. „Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass Russland ihn als nützlichen Vermittler ansieht. Moskau sieht das Treffen möglicherweise nur als Gelegenheit zur Öffentlichkeitsarbeit.“
UN fälschlicherweise unter Druck?
Für Guterres ist die Reise ein Chance, seine eigene Rolle aufzuwerten. Aufgrund seiner langen Zurückhaltung ohne internationale Reisen und nur wenigen Telefonaten mit Regierenden stehen die Vereinten Nationen unter Druck. Mancher fragt sich, welche Bedeutung die Organisation hat, wenn sie einen solchen Krieg nicht stoppen kann. Ein Vorwurf, der nicht ganz fair ist: Wer den UN die Daseinsberechtigung abspricht, übersieht den immensen diplomatischen Erfolg, dass es seit ihrer Gründung 1945 keinen Krieg zwischen zwei oder mehreren Großmächten mehr gegeben hat. Und am Ende sind die Vereinten Nationen eben vor allem auch die Arena für die Länder der Welt - und damit nur so funktional wie ihre Mitglieder einig.
Trotzdem wird der Ton auch auf den Fluren des UN-Hauptquartiers in New York schärfer: Guterres, Anfang des Jahres in seine zweite und letzte Amtszeit gestartet, müsse entgegen seiner Natur mehr Risiko gehen, um Impulse zu geben. Zuletzt hatten mehr als 200 hochrangige frühere UN-Funktionäre dem Generalsekretär Druck gemacht. Sie drängten ihn in einem Brief, sich stärker für eine Friedenslösung einzusetzen. „Uns entsetzt die Alternative, dass die Vereinten Nationen zunehmend an Bedeutung verlieren“, schrieben sie.
„Er muss es trotzdem versuchen.“
Einer der Unterzeichner war der UN-Veteran Andrew Gilmour. Er ist Leiter der Berliner Berghof-Stiftung und war bis 2019 Vize-UN-Generalsekretär für Menschenrechte. Guterres' Vorgänger hätten es bei früheren Konflikten auch einkalkuliert, dass ihr persönliches Image leide oder sie gar dumm aussehen könnten, wenn sie nichts erreichen, sagte er der BBC. „Der Punkt ist: Er muss es trotzdem versuchen.“
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Politisch mögen die Vereinten Nationen vor allem durch Russlands Vetomacht im Sicherheitsrat zunehmend blockiert sein. Welche wichtige Rolle die UN aber trotz oder gerade wegen des Krieges spielen, zeigt ein Blick nach Genf. Dort sind zahlreiche humanitäre UN-Organisationen angesiedelt, die sich um die Kriegsopfer kümmern.
Humanitäre UN-Organisationen
Einige Beispiele: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in der Ukraine die nötigsten Medikamente und Material für die Grundversorgung von 7,5 Millionen Menschen für drei Monate verteilt. Das Welternährungsprogramm (WFP) versorgt Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln oder Geld für Einkäufe. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat tonnenweise Material wie Solarlampen, Hygienematerial, Babynahrung und Decken in umkämpfte Gebiete geliefert. Die Organisation für Migration (IOM) richtet Hotels und Schlafsäle als vorübergehende Behausung für eine Million Vertriebene ein.
Auch angesichts dieses großen humanitären Fußabdrucks der Weltorganisation sieht UN-Experte Gowan bei der Ukraine-Reise eine Chance für den Generalsekretär, ein internationales Zeichen zu setzen: „Guterres sollte erwägen, nach einer zusätzlichen Reise nach Mariupol zu fragen, um sich ein Bild vom Leid zu machen und möglicherweise die Abreise von Zivilisten aus der Stadt zu erleichtern. Es wäre ein Schritt mit hohem Risiko, aber es wäre auch eine starke humanitäre Geste.“ (dpa)