Die Angehörigen der Hamas-Geiseln in Israel durchleben einen unvorstellbaren Alptraum. Unter den Verschleppten sind auch Deutsche. Ihre Angehörigen bauen auf die Hilfe von Kanzler Olaf Scholz, der am Dienstag in Israel erwartet wird.
„Ich stehe an den Pforten zur Hölle“Wie israelische Familien den Geisel-Terror der Hamas erleben
Im Wohnzimmer in Joni Aschers Haus sind die Spielsachen seiner beiden kleinen Töchter verstreut, von denen er nicht weiß, ob sie noch am Leben sind. Am Treppengeländer hängt ein rosa Plüschaffe, in einer Ecke stehen eine Kinderküche und eine Tafel. Im Regal stapeln sich Bilderbücher und Spiele, selbstgemalte Bilder und Puppen. Auf dem Tisch vor dem Fernseher, in dem israelische Nachrichten ohne Ton laufen, hat der Vater Fotos der vierjährigen Ras und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Awiw ausgebreitet, die beiden Mädchen lächeln darauf.
Eineinhalb Wochen ist es her, dass Ras und Awiw beim beispiellosen Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel in den Gaza-Streifen verschleppt worden sind – gemeinsam mit ihrer Mutter Doron Ascher Katz (34) und Großmutter Efrat Katz (67), zwei deutschen Staatsbürgerinnen. Nach offiziellen israelischen Angaben hat die Armee fast 200 Familien darüber informiert, dass Angehörigen von ihnen entführt wurden. Darunter sind zahlreiche Israelis, die noch eine weitere Staatsangehörigkeit haben.
Joni Ascher ist Berater in der Immobilienbranche, die Familie lebt in Netanja nahe Tel Aviv in einer schmucken Siedlung, Einfamilienhäuser säumen die ruhigen Straßen. In seinem Garten hat Ascher einen kleinen Pool für den Herbst mit einer Plane abgedeckt, auf der Terrasse steht ein rosa Dreirad. Die Idylle trügt. „Ich stehe an den offenen Pforten zur Hölle“, sagt der 37-Jährige. „Meine ganze Familie ist mir genommen worden.“
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Ascher wirkt völlig verzweifelt, wenn er von jenem schicksalhaften 7. Oktober erzählt, der Israel und die Welt in Schock versetzt und sein eigenes Leben auf den Kopf gestellt hat. Seine Ehefrau besuchte an dem Wochenende mit den beiden Töchtern ihre Mutter im Kibbuz Nir Os im Süden Israels, ganz in der Nähe des Gazastreifens.
Familie auf Hamas-Video
Er selbst habe arbeiten müssen und sei daher zu Hause geblieben, sagt Ascher. „Um 10.30 Uhr hat meine Frau mich angerufen und mir gesagt, dass sie Schüsse und Raketen höre. Sie flüsterte und klang völlig verängstigt. Dann sagte sie, dass Menschen ins Haus eingedrungen seien.“ Zwar hätten die Hausbewohner in einem Schutzraum Zuflucht gesucht, vorsichtshalber hätten er und seine Frau das Gespräch aber trotzdem beendet, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. „Danach konnte ich sie nicht mehr erreichen.“
Inzwischen seien die Nachrichten im Fernseher über den Hamas-Terrorangriff immer schlimmer geworden, sagt Ascher – und seine Sorgen immer größer. Über einen Mailaccount seiner Frau habe er deren Handy im Gazastreifen orten können. „Die nächsten Stunden waren so nervenaufreibend, ich kann es nicht mit Worten beschreiben.“ Am Nachmittag sei dann in sozialen Medien ein neun Sekunden langes Video aufgetaucht, auf dem er seine Ehefrau, seine Töchter und seine Schwiegermutter erkannt habe. „Das ist der Moment, in dem ich sicher wusste, dass sie als Geiseln genommen wurden.“
Auf dem kurzen Video, das Ascher auf seinem Handy zeigt, sind verängstigte Menschen zu sehen, die auf einem Anhänger kauern. Umstehende Männer rufen „Allahu Akbar“, Gott ist groß. Ein Bewaffneter stülpt Doron Ascher Katz ein Stück Stoff über den Kopf, bevor der Anhänger von einem Fahrzeug davongezogen wird. Drei Generationen der Familie seiner Frau seien in der Gewalt der Hamas, sagt Ascher: Die Kinder, die Mutter und die Großmutter. Die Urgroßmutter sei eine Holocaust-Überlebende gewesen. „Ich bin froh, dass sie das nicht mehr miterleben muss.“
Deutsche Verantwortung im Nahostkonflikt: Verwandte hoffen auf Kanzler Scholz
Ascher will alles unternehmen, um seine Familie zurückzubekommen. „Das ist der Kampf meines Lebens“, sagt er. „Ich habe nichts zu verlieren.“ Er setzt nun darauf, dass sich Olaf Scholz mit aller Kraft für die deutschen Geiseln einsetzt – der Bundeskanzler wird heute in Israel erwartet. „Dies ist die Stunde der Prüfung, jetzt ist es an der Zeit, zu dem Versprechen ‚Nie wieder‘ zu stehen“, sagt Ascher mit Blick auf die Lehren aus der Nazi-Herrschaft. Die Botschaft, die er den Deutschen zu vermitteln versuche, sei, dass der Terror nicht auf Israel begrenzt sei. „Machen Sie sich nichts vor, so etwas kann auch in Europa geschehen. Es kann auch Ihnen geschehen.“
Gilli Romann (39) vermisst seit dem Hamas-Angriff seine Schwester Jarden Romann (35), auch die beiden Geschwister haben neben der israelischen die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Anfang des Interviews am Montag in Giwatajim in der Wohnung des Vaters verschiebt sich etwas, weil Gilli Romann versucht, über seine israelischen Kontakte ein Treffen mit Kanzler Scholz zu arrangieren – die Besuchspläne sind gerade erst bekannt geworden. Das Apartment des Vaters in Giwatajim nahe Tel Aviv ist zur Krisenzentrale geworden, zahlreiche Familienangehörige haben sich eingefunden, sie telefonieren und organisieren Unterstützung.
„Wir erwarten von der deutschen Regierung, dass sie die Namen unserer Familienmitglieder nennt, dass sie sagt, dass sie sie als vollwertige Deutsche betrachtet und dass sie die volle Verantwortung für ihre Freilassung übernimmt“, betont Gilli Romann. „Und für mich ist es wichtig, dass das deutsche Volk weiß, dass es uns beistehen muss.“ Auch die Romanns haben zahlreiche Vorfahren im Holocaust verloren. Die Großmutter, die aus Fürth stammte, verließ Nazi-Deutschland am Tag nach der Reichspogromnacht im November 1938. Der Großvater studierte einst in Heidelberg.
Gilli Romann sagt, Jarden, ihr Ehemann Alon (37) und die drei Jahre alter Tochter Geffen seien am 7. Oktober im Kibbuz Be‘eri von Hamas-Terroristen verschleppt worden. Dabei sei die Familie einen Monat zuvor ausgerechnet deswegen aus dem Kibbuz weggezogen, weil Jarden die zunehmende Verschlechterung der Sicherheitslage Sorgen gemacht habe.
Nach dem Wegzug sei er gemeinsam mit seiner Schwester, seinem Schwager und seiner Nichte in einen Wohnmobil-Urlaub nach Südafrika gefahren, sagt Gilli Romann. Erst am Tag vor dem Hamas-Überfall seien sie nach Israel zurückgekehrt. Die Familie habe im Anschluss Jardens Schwiegereltern – Alons Eltern – im Kibbuz Be‘eri besuchen wollen.
Am Samstagmorgen sei dann in Tel Aviv und in Be‘eri Luftalarm ausgelöst worden. „Am Anfang dachten wir, das ist nur Routine. Ich habe meiner Schwester nur eine Nachricht geschickt, um sicherzugehen, dass die Familie im Schutzraum ist.“ Als sich die Lage zugespitzt habe, hätten sie vereinbart, jede halbe Stunde in Kontakt zu sein. Ab 10.30 Uhr habe er dann keine Antwort auf seine Nachrichten mehr bekommen.
Aus dem Auto gesprungen
Gilli Romann sagt, Jarden, Alon und die kleine Geffen seien von Hamas-Terroristen in ein Auto gezwungen worden. Kurz vor der Grenze nach Gaza sei es ihnen gelungen, aus dem Wagen zu springen und davonzulaufen. Sie seien dabei von vier Terroristen verfolgt worden. Jarden habe die Tochter getragen, sie dann aber Alon übergeben, weil die Verfolger aufschlossen. Alon und Geffen seien vorgerannt und hätten schließelich mehr als zwölf Stunden lang in einem Versteck ausgeharrt, um auf Jarden zu warten – die aber nicht aufgetaucht sei.
Gilli Romann sagt, eine Woche lang habe er mithilfe von Soldaten erfolglos nach seiner Schwester gesucht. Er gehe davon aus, dass sie am Leben sei, aber „von den brutalsten und barbarischsten Menschen in Gaza“ festgehalten werde. Jardens Schwiegermutter – Alons Mutter – sei bei dem Überfall verschleppt und erschossen worden. Geffen habe nun keine Großmutter mehr – die andere sei in diesem Jahr an einer Krebserkrankung gestorben. Der Dreijährigen gehe es tagsüber in Ordnung. „Nachts ist es sehr viel schwieriger. Sie wacht auf und ruft nach ihrer Mutter.“
Trotz allem Glaube an Frieden
Gilli Romann arbeitet als Berater im Bildungsbereich, früher war er Direktor einer internationalen Schule, die auch palästinensische Kinder besuchten. Er bezeichnet sich als „Friedensaktivist“. „Ich weiß, dass die Leute sagen, es sei unrealistisch, nach Frieden zu streben“, sagt er. „Aber es ist auch unrealistisch zu glauben, dass Millionen von Menschen verschwinden werden.“ Deswegen gebe es keine Alternative zur Koexistenz von Israelis und Palästinensern. „Wir werden zusammenleben“, sagt Romann. „Die zentrale Frage ist, ob wir friedlich zusammenleben können.“