InklusionBis zu 30 Prozent der Schüler mit Förderbedarf – aus falschen Gründen
Düsseldorf/Köln – Schulische Inklusion, das bedeutete einmal im Hinblick auf Kinder und Jugendliche, ganz gleich, ob sie an einer Behinderung leiden oder nicht: Alle lernen in gemeinsamen Klassen, Lerngruppen oder Kursen. Diese Form der Inklusion war ein zentrales Projekt der rot-grünen Landesregierung, die bis zur Abwahl 2017 Sylvia Löhrmann als Bildungsministerin stellte.
Dass im Jahr 2017 Rot-Grün durch Schwarz-Gelb abgelöst wurde, hing auch mit eben diesem Anliegen zusammen: Viele Eltern fanden, dass Inklusion zwar ein richtiges Ziel sei, das aber schlecht umgesetzt werde – vor allem aufgrund fehlender Lehrkräfte und mangelnder Ausstattung an den allgemeinen Schulen, die immer mehr Schülerinnen und Schüler mit Behinderung aufnahmen.
Yvonne Gebauer, die damals neue Bildungsministerin aus den Reihen der FDP, reagierte mit einer Verschiebung der Gewichte: Die Förderschulen wurden gegenüber den Regelschulen wieder gestärkt.
Keine Rückendeckung
Wenn es um die vergangene Legislaturperiode geht, fällt die Antwort von Eva-Maria Thoms vom Kölner Verein „Mittendrin“ allerdings ernüchtert aus: „Es liegen fünf Jahre hinter uns, in denen der Schwung erlahmt ist, weil aus Düsseldorf keine Rückendeckung mehr kam. Darunter leidet das Engagement in einigen Kollegien.“ Der Verein wurde 2006 von Eltern behinderter Kinder gegründet und ist Träger zahlreicher Projekte rund um Inklusion.
Heute, sagt Eva-Maria Thoms vom Kölner Verein „Mittendrin“, würden „Kinder mit förderpädagogischem Sonderbedarf so lange beraten, bis sie auf eine Förderschule wechseln. Wir haben auch in Köln eine stark ansteigende Zahl von sonderpädagogischen Feststellungen.“ Es gebe eine Tendenz, Kinder, die Schwierigkeiten welcher Art auch immer haben, rasch in ein solches Feststellungsverfahren zu schicken.
In Köln wird inzwischen jedem zehnten Erstklässler Förderbedarf bescheinigt. Tendenz stetig steigend. Allein in diesem Jahr wird in Köln ein erneuter Anstieg um fünf Prozent erwartet. In sozialen Brennpunkten gibt es Schulen, in denen bis zu 30 Prozent der Kinder in der ersten Klasse in einem Feststellungsverfahren Förderbedarf attestiert wird.
Aus Sicht der Schule macht das Sinn und ist oft die einzige Möglichkeit, zusätzliche Unterstützung zu erhalten, denn die Schule bekommt für jeden Förderschüler zusätzliche personelle Ressourcen durch Sonderpädagogen-Stunden. Für die Kinder hat das allerdings schwerwiegende Folgen: Schließlich laufen sie nicht selten ihre gesamte Schullaufbahn mit dem Etikett Förderschüler herum – also mit dem Etikett einer Behinderung.
Nicht im Sinne der Inklusion
„Das geht definitiv zu schnell“, sagt Thoms. „Unsere Förderschulen zur Geistigen Entwicklung – ein Etikett, das sehr viel häufiger als früher vergeben wird – sind voll. Im Sinne der Inklusion kann das kein gutes Ergebnis sein.“
2009 trat in Deutschland die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen in Kraft. Sie verpflichtet Vertragsstaaten dazu, ein inklusives Schulsystem zu schaffen. Die Befürworter einer strikten Inklusion wollen überhaupt keine Förder- oder, wie sie einst hießen, Sonderschulen mehr darin vorsehen. Anhänger des gegliederten Schulsystems begreifen Förderschulen hingegen als integralen Bestandteil des allgemeinen Schulsystems, das folglich inklusiv sei.
Unter der soeben abgewählten Regierung aus CDU und FDP in NRW durften nur noch Regelschulen für ein gemeinsames Lernen inklusiven Unterricht anbieten. Dafür mussten Stellen für Sonderpädagogen, Konzepte und Räume geschaffen werden. Jede Klasse sollte zu der jeweiligen Lehrkraft eine halbe Stelle hinzu gewinnen, die mit Pädagogen, Erziehern oder Sozialarbeitern besetzt werden kann.
„Die Landesregierung investiert massiv in die Inklusion“, sagte Gebauer damals. Eva-Maria Thoms bleibt skeptisch: „Auf dem Papier wurden sehr viele Stellen für die Inklusion geschaffen – sowohl für Lehrkräfte als auch für sonstiges pädagogisches Personal. Die Stellen sind aber meines Wissens bei weitem nicht alle besetzt.“
Mehr Engagement
Von der neuen Landesregierung wünscht sich die Vereinsvorsitzende von „Mittendrin“, dass man das Thema inklusive Bildung wieder mit Freude und Engagement angehe. Es müsse ein Zeit- und Maßnahmenplan her, wie man inklusive Bildung auf- und ausbauen kann. „Vor allem muss auf allen Ebenen ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, in der Öffentlichkeit, in der Lehrerschaft, in der Politik, in den Verwaltungen, und man muss die Eltern ermutigen.“
Es heiße gern, dass es eine Abstimmung mit den Füßen sei, wenn die Eltern ihre Kinder an einer Förderschule anmelden. „In Wahrheit ist es so, dass viele Kinder an den allgemeinen Schulen nicht willkommen sind“, sagt Thoms. „Das Elternwahlrecht ist ein echtes Märchen. Wir haben definitiv kein Problem, Kinder an Förderschulen unterzubringen. Unser Problem besteht darin, für das Kind oder den Jugendlichen einen guten Platz im Gemeinsamen Lernen zu bekommen, der halbwegs in Wohnortnähe liegt.“
Denn während es an den Förderschulen in Köln – zumindest noch – ausreichend Plätze gibt, sind Plätze an Gesamtschulen, die vom Konzept her auf das gemeinsame Lernen am besten ausgerichtet sind, totale Mangelware. Ein Drittel der Kölner Inklusionskinder, die im aktuellen Anmeldeverfahren auf einer Gesamtschule angemeldet wurden, erhielten dort keinen Platz.
Und bei denen, die einen Platz bekommen haben, liegt aufgrund der Platzknappheit die zugewiesene Schule oft sehr weit entfernt vom Wohnort, und der Schulweg muss quer durch die Stadt oder auf die andere Rheinseite zurückgelegt werden. Wege, die Inklusionskinder aufgrund ihrer Beeinträchtigung meist gar nicht alleine zurücklegen können. Aber Anspruch auf einen Fahrdienst haben nur die Kinder an Förderschulen.
Weil berufstätige Eltern die langen Bring- und Holdienste mit dem Auto dauerhaft nicht leisten könnten, landen dann nach Angaben von Thoms nicht selten selbst Kinder an der Förderschule, die eigentlich einen der begehrten Plätze im gemeinsamen Lernen bekommen hatten.
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Auch wenn das Thema Inklusion von der Agenda der letzten Landesregierung nicht verschwunden sei, wurde es von anderen schulpolitischen Problemen überlagert, zuletzt klar von Corona. Definitiv sei es in den vergangenen zehn Jahren zu Fortschritten bei der Inklusion gekommen, und es sei auch in der Öffentlichkeit angekommen, dass Kinder mit Behinderung dazugehören, sagt Thoms. „Doch inzwischen sind wir wieder im Rückwärtsgang“, so die Vereinsvorsitzende. „Das merkt man daran, dass sich wieder Äußerungen dahingehend häufen, dass nicht jeder für die Inklusion geeignet sei. Was einen Widerspruch in sich darstellt: Ziel der Inklusion ist schließlich, dass alle mitgenommen werden.“