Frau Ghafari, vor einer Woche sagten Sie aus Kabul heraus zu Journalisten: Ich warte darauf, dass die Taliban zu Menschen wie mir kommen und mich töten. Schon bevor die Taliban Afghanistan zurückeroberten, versuchten diese mehrmals, Sie umzubringen. Wie haben Sie überlebt?Zarifa Ghafari: Ich habe drei bewaffnete Angriffe der Taliban überlebt. Beim letzten Angriff haben sie meinen Vater getötet, direkt vor unserem Haus. Als die Taliban Kabul einnahmen, fingen sie an, nach mir zu suchen: Sie kamen in mein Haus, durchsuchten es, verprügelten meine Sicherheitskräfte, nahmen mein Auto weg. Ich war schon fort: Nach dem Fall von Kabul änderte ich vier Tage lang dauernd meinen Aufenthaltsort, wanderte umher mit meiner Familie. Dann nahmen wir ein Taxi zum Flughafen.
Bevor die internationalen Streitkräfte abzogen, waren Sie Bürgermeisterin von Maidan Shahr. Schon damals war der Job gefährlich, gerade als Frau. Wieso haben Sie das Risiko trotzdem auf sich genommen?
Wenn man etwas ändern möchte, muss man bei sich selbst anfangen. Wenn ich etwa Frauen überzeugen möchte, arbeiten zu gehen, dann muss ich mit gutem Beispiel vorangehen. Maidan Shahr liegt auf dem Land und war kein sicherer Ort für Frauen. Alle Frauen hatten hier Angst, arbeiten zu gehen. Da dachte ich mir: Wenn ich daran etwas ändern möchte, muss ich selbst dort arbeiten. Also habe ich mich um das Bürgermeister-Amt beworben. Bis zum 9. Juni dieses Jahres habe ich in Maidan Shar gearbeitet, dann versetzte mich die Regierung ins Verteidigungsministerium. Es war schon hart, aber ich mochte es.
Die letzten zwei Monate, auch beim Vormarsch der Taliban, arbeiteten Sie in Kabul. Möchten Sie darüber sprechen?
Meine Mutter sagte an einem Morgen zu mir: Die Taliban werden heute in Kabul einmarschieren. Bleib zu Hause, geh nicht zur Arbeit. Doch ich ging trotzdem ins Büro. Dort kam plötzlich ein Mann und sagte: „Alle Frauen im Ministerium wurden gebeten, nach Hause zu gehen.“ Da habe ich ihn gefragt: „Wieso sollte ich gehen? Sie sind doch auch noch hier, also bleibe ich. Ich habe keine Angst.“ Eine Stunde später hat jedoch meine Mutter weinend angerufen: Die Taliban waren an der Universität meiner Schwester angekommen. Also ging ich hinaus, ließ mein Auto zurück, lief zur Universität und brachte meine Schwestern an einen Ort, von dem ich dachte, er wäre sicher.
Sie sagten, in den nächsten Tagen seien Sie zum Flughafen aufgebrochen. Wie sind Sie dort angekommen? Die Taliban ließen kaum Menschen zum Flughafen durch.
Wir buchten ein Taxi für acht Personen und hatten alle nur eine kleine Tasche dabei. Einmal hielten uns die Taliban an, aber der Fahrer sagte ihnen, wir wären nur auf der Durchreise von einer Provinz in die nächste. In der Nähe des Flughafens ließ er uns raus und wir begannen zu laufen. Ich habe keine Angst zu sterben, aber wenn die Taliban mich kriegen, dann hätten sie auch meiner Familie etwas antun können. Als wir am Zaun zum Flughafen ankamen, rief ich also alle Bekannten von mir in Botschaften an und sagte: „Bringt meine Familie in den Flughafen. Ich komme nicht mit rein, aber bitte, bringt meine Familie in Sicherheit.“ Meine Mutter hörte das und sagte: „Ich gehe nicht hinein, wenn du nicht mitkommst.“ Also musste ich das tun, was ich niemals tun wollte.
Wie sind Sie dann in den Flughafen gekommen?
Ich habe gute Freunde in der türkischen Botschaft. Einer sagte: Ich schicke Leute zu dir, die bringen dich hinein. Kurz darauf hörte ich, wie jemand meinen Namen in die Menge rief. So kamen wir rein, von dort nach Islamabad, nach Istanbul und am Ende nach Deutschland.
Die Taliban behaupten, sie werden Rechte von Frauen, ihr Recht auf Bildung und auf Arbeit im Rahmen des Islams schützen. Glauben Sie das?
Das glaube ich nicht. Aber die Taliban kennen nicht die Macht der neuen Generation an Frauen in Afghanistan. Ich fordere die Taliban und ihre Anführer auf, zurück an den Verhandlungstisch zu kommen. Auch ich wäre für die afghanischen Frauen bereit, mit ihnen zu verhandeln. Ich werde vergessen, dass sie meinen Vater umgebracht haben, dass sie mich töten wollen, mein Leben, meine Zukunft und das Leben meiner Schwestern zerstört haben. Es ist Zeit zu reden. Ich habe keine Pistole, die ich abfeuern kann, aber ich habe meine Stimme. Die zählt.
Als die Taliban das erste Mal an die Macht kamen, waren Sie ein junges Mädchen. Welche Erinnerungen haben Sie an deren erste Herrschaft?
Einmal, als ich mit meiner Großmutter nach Hause lief, trug ich nur eine Jeans und ein Shirt, meine schulterlangen Haare hatte ich nicht bedeckt. Meine Großmutter wollte mich aufziehen und sagte: „Die Taliban werden dich entführen, wenn sie sehen, dass du kein Kopftuch trägst.“ Ich bekam solche Angst. Ich nahm den größten Schal meiner Großmutter, wickelte ihn mir ums Haar und über das Gesicht und hielt Ausschau nach den Taliban. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war lernten wir außerdem bei einem Lehrer im Keller Englisch. Immer, wenn wir Stimmen oben hörten, befahl uns der Lehrer, alle Bücher im Teppich zu verstecken – falls jemand kommen würde. Heute, glaube ich, sind die Taliban noch grausamer. Sie haben mehr Waffen, größere Waffen und viel finanzielle Unterstützung.
Zur Person
Zarifa Ghafari, geboren 1992, ist eine afghanische Kommunalpolitikerin und Frauenrechtlerin. Sie war seit 2018 Bürgermeisterin der Stadt Maidan Shahr – das jüngste Stadtoberhaupt Afghanistans und eine von wenigen Frauen in dieser Position. In Maidan Shahr eröffnete sie einen Markt nur für Frauen und schuf so Arbeitsplätze für Frauen. Nach der Eroberung des Landes durch die Taliban flüchtete Ghafari mit ihrer Familie. Am Montagabend landete sie am Flughafen Köln/Bonn. (red)
Was muss – auch von internationaler Seite aus – nun passieren, um die Frauenrechte zu schützen?
Die Taliban müssen unter Druck gesetzt werden, um die Menschenrechte und Frauenrechte zu wahren. Man muss mit ihnen sprechen.
Derzeit sind Sie ja in Düsseldorf. Was sind Ihre Pläne? Werden Sie in Köln oder Düsseldorf bleiben?
Mein Plan ist es nicht, irgendwo zu bleiben. Ich will reisen, mit der Flagge der Frauenrechte und Menschenrechte im Gepäck, um meine Stimme für die Frauen zu erheben, die selbst nicht frei sprechen können.
Das Gespräch führte Lena Heising.