Nach den schweren Angriffen auf Israel durch die Terrormiliz Hamas analysiert Experte Peter Lintl die Lage – und gibt einen Ausblick.
Wie geht es weiter im Nahostkonflikt?„Es wird in den nächsten Wochen hunderte weitere Tote geben, vielleicht sogar Tausende“
Alle paar Jahre muss man „den Rasen mähen“, so nennt im israelischen Sicherheitsapparat die immer wiederkehrenden Militärschläge gegen die Hamas im Gazastreifen, mit denen die Terrormiliz so geschwächt werden soll, dass sie Israel nicht gefährlich werden kann. Doch am Samstag scheiterte diese Taktik, mit schwerwiegenden Folgen. Der Hamas gelang der schwerste Angriff auf Israel seit Jahrzehnten.
Hamas-Angriff auf Israel: Bewaffnete Palästinenser greifen über Land, See und Luft an
Die Terroristen feuerten tausende Raketen auf israelische Städte, töteten hunderte Menschen und verletzten mehr als tausend weitere. Bewaffnete Palästinenser drangen über Land, See und Luft nach Israel vor, verschanzten sich mit Geiseln in Häusern und verschleppten Zivilisten. Dutzende Orte nahm die Hamas ein und lieferte sich stundenlang Kämpfe mit dem Militär.
Der Konflikt hat eine neue Dimension erreicht, erklärt Israel-Experte Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Was gerade in Israel passiert und in den nächsten Tagen noch passieren wird, verändert den Nahostkonflikt grundlegend“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die israelische Strategie der Abschreckung und Schwächung der Hamas sei gescheitert. „Der israelisch-palästinensische Konflikt ist nach diesem Angriff nicht mehr derselbe.“
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Der Angriff wirft viele Fragen auf und lässt in Israel den Ruf nach Aufarbeitung laut werden: Wie konnten Hunderte schwer bewaffnete Terroristen die massiven Befestigungsanlagen an der Grenze zu Gaza überwinden, in Dörfer eindringen und dort Zivilisten töten oder als Geiseln nehmen? Warum wurden der israelische Geheimdienst von dem offenbar monatelang vorbereiteten Angriff überrascht?
In einer Einschätzung für das RND kommt Terrorismusforscher Peter R. Neumann zu dem Schluss, dass der israelische Geheimdienst die Lage falsch eingeschätzt habe. „Seit einiger Zeit gab es Geraune in palästinensischen Gruppen, dass es bald zu einer größeren Aktion der Hamas kommen wird“, erklärt Neumann. Dem Angriff seien intensive Gespräche zwischen verschiedenen Terrororganisationen und ihren Unterstützern vorausgegangen.
Gaza-Streifen: Israel kontert hart die Hamas-Angriffe
Die Demütigung und Untergrabung der militärischen Überlegenheit Israels beantwortete das israelische Militär nur wenige Stunden nach dem Hamas-Angriff mit Luftschlägen gegen Ziele der Terroristen in Gaza. Die Angriffe gehen wohl weiter. Denn angesichts dieses präzedenzlosen und einschneidenden Ereignisses in der israelischen Geschichte wird Israel die Herrschaft der Hamas in Gaza nicht weiter hinnehmen, glauben Beobachter. „Die Regierung in Israel ist gezwungen, die Führung der Hamas zu eliminieren“, macht Lintl deutlich. Die gesamte Hamas werde man aber nicht zerschlagen können.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu kündigte nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts am Sonntag eine „Offensivphase“ mit vernichtenden Schlägen gegen militärische Einrichtungen der Hamas an. Ein ranghohes Hamas-Mitglied soll nach Angaben des Zivilschutzes bereits getötet worden sein. Außerdem rief das Sicherheitskabinett den Kriegszustand aus, der „weitreichende militärische Schritte“ erlaube.
„Israel wird mit Bodentruppen oder schweren Luftschlägen die Hamas massiv angreifen, mehr als wir es bisher gesehen haben“, sagt Lintl. Er rechnet mit weiteren Hunderten Toten in den nächsten Wochen, „vielleicht sogar Tausende“. Die Angst vor einem langen, schweren Krieg sei berechtigt, eine Alternative derzeit nicht in Sicht.
In einigen Wochen oder Monaten wird man sich wohl fragen, so Lintl, ob es eine politische Lösung geben kann. „Aber dass es in naher Zukunft zu einer politischen Lösung kommt, ist mehr als unwahrscheinlich.“ Die von der Hamas entführten Soldaten und Zivilisten, darunter laut Berichten auch Deutsche, könnten von den Terroristen als Verhandlungsmasse eingesetzt werden. „Dass sie das Überleben der Hamas-Führung sichern können, glaube ich aber nicht“, sagt der Experte.
Hisbollah: Sorge um Ausweitung der Kämpfe in den Nahen Osten
Die Sorge ist groß, dass sich die Kämpfe im Nahen Osten ausweiten und mit der Hisbollah eine weitere Terrormiliz in den Krieg eingreift. Im Süden des benachbarten Libanon feuerte die Hisbollah bereits Raketen und Granaten auf Israel und erklärte ihre Solidarität mit der Hamas. Beide Terrorgruppen werden maßgeblich vom Iran mit Geld und Waffen unterstützt. Das Regime in Teheran ist auch der Grund, warum die militärische Ausstattung der Hamas immer besser geworden ist.
Einige Raketen stellt die Terrororganisation selbst her, erklärt Terrorismusexperte Neumann. Die wirklich modernen Raketen mit einer Reichweite bis nach Jerusalem stammten aber aus dem Iran. „Das iranische Regime führt hier einen Stellvertreterkrieg und kämpft gegen Israel, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen.“
Die Hisbollah hatte in der Vergangenheit bereits mehrfach Israel beschossen. Ob der jüngste Angriff der Beginn einer größeren Aktion ist, lässt sich noch nicht abschätzen. Sollte die Hisbollah in den Krieg eingreifen, droht ein Flächenbrand in der Region. Die Terrormiliz ist professioneller aufgestellt als die Hamas und verfügt über ein großes Raketenarsenal, mit dem sie aus dem Libanon ganz Israel erreichen kann. „Israel erlebt dann einen Zwei-Fronten-Krieg, der vor allem mit Raketen geführt wird“, sagt SWP-Experte Lintl. Das Land wäre permanent im Alarmzustand und müsste Angriffe von zwei Seiten fürchten. „Der Krieg breitet sich dann auf den Libanon aus und Israel würde Ziele im Libanon in einer Massivität bombardieren, wie wir es noch nicht gesehen haben“, so der Experte. „Es ist davon auszugehen, dass die israelische Luftwaffe diese Gebiete dem Erdboden gleichmachen würde.“ Erste israelische Gegenangriffe auf die Gegend im Libanon gab es bereits am Wochenende, die Hisbollah feuerte zurück.
Ob und wie es der internationalen Gemeinschaft gelingen kann, ein Eingreifen der Hisbollah in diesen Krieg zu verhindern, ist offen. Hoffnungen ruhen auf Saudi-Arabien, das nach einer Annäherung an den Iran derzeit auch Gespräche über eine Normalisierung seiner Beziehungen mit Israel führt. Der Ölstaat gilt zudem als wichtige Schutzmacht der Palästinenser. „Saudi-Arabien könnte in Gesprächen auf den Iran einwirken, dass sich die Hisbollah raushält“, meint Lintl. Chancen sieht er auch in einer Drohkulisse der Militärmacht USA, die Israel ihre volle Unterstützung zugesichert haben. „Wenn die USA sagen, jeder weiterer Angriff auf Israel wird schwere Konsequenzen haben, könnte das eine Rolle bei der Entscheidung der Hisbollah spielen, ob sie in diesen Krieg eintreten.“
Ausgerechnet Russland könnte von dem Konflikt profitieren, auch wenn Moskau bisher keine Seite eindeutig unterstützt. Doch der Krieg gegen die Hamas könnte Beobachtern zufolge von der Aufmerksamkeit und Unterstützung des Westens für die Ukraine ablenken. Schon jetzt verbreitet der Kreml die Behauptung, der Westen habe sich zu sehr auf die Ukraine fokussiert und den Nahen Osten vernachlässigt. Ex-Präsident Dmitri Medwedew spottete, der Westen hätte sich eher mit Israel beschäftigen sollen, anstatt sich „in unsere Angelegenheiten einzumischen“.