Grisha Alroi-Arloser lebt in Tel Aviv. Im Interview berichtet er, wie er die jüngste Attacke auf Israel erlebt – und warum er auch wütend auf die eigene Regierung ist.
Israelischer Augenzeuge zum Krieg der Hamas„Das ist ein unfassbarer Angriff“
Grisha Alroi-Arloser wurde 1956 als Kind von Holocaustüberlebenden in Sibirien geboren, wuchs in Bergisch Gladbach auf, studierte in Köln und lebt seit seiner Einwanderung nach Israel 1978 in Tel Aviv. Zuletzt war Alroi-Arloser, der regelmäßig als Referent der Bundeszentrale für politische Bildung tätig ist, Geschäftsführer der Deutsch-Israelischen Industrie- und Handelskammer. Das Telefonat mit ihm fand am Samstagabend statt.
Herr Alroi-Arloser, wie ist es Ihnen heute ergangen?
Schlecht, ehrlich gesagt. Das ist eine ganz schwere Situation, wie wir sie noch nie hatten. Ich bin heute Morgen um viertel vor sieben von Raketenalarm aufgewacht. Dann bin ich mit meiner Frau und meiner Tochter in den Schutzraum gegangen. Dort haben wir die Einschläge gehört. Das hat sich noch zweimal wiederholt. Außerdem wollte meine Schwester heute eigentlich ihre jüngste Tochter verheiraten. Es waren Gäste aus der ganzen Welt eingeladen. Die Hochzeit musste natürlich abgesagt werden – und der Bräutigam wurde eingezogen. Schließlich habe ich mit meinem Sohn telefoniert, der auf dem Weg ins Verteidigungsministerium war, weil er eine führende Position in der Luftabwehr hat. Meinen anderen Sohn musste ich in die Kaserne fahren; er wurde mit dem Hubschrauber in den Süden geflogen, um dort mit seiner Eliteeinheit zu kämpfen. Zuletzt habe ich meine Frau zum Blutspenden ins Krankenhaus gebracht. Seitdem schaue ich Nachrichten. Das war mein Tag.
Alles zum Thema Nahostkonflikt
- Nahost-Newsblog Israel wird im Kampf gegen Hisbollah nicht nachlassen
- Angst vor dem Untergang in der SPD Olaf Scholz und das Ampel-Aus – Ein Kanzler ohne Macht
- Kölner USA-Experte Thomas Jäger „Trumps Wille ist künftig der Maßstab für Politik“
- In Berliner Bar Antisemitische Attacke auf Fan von israelischem Fußballverein
- US-Wahlkampf Elon Musk für Trump – Was treibt diesen Mann an?
- „Die Brücke nach Haifa“ Ein Plädoyer für Empathie und Verständigung in Leverkusen
- „frank&frei“ zu jüdischer Identität Natan Sznaider und Navid Kermani diskutieren Nahost-Konflikt
Wie viel Angst macht Ihnen dieser Angriff?
Er macht mir viel Angst um die Jungs. Daneben ist hier die Einschätzung sehr verbreitet, dass dieser Überraschungsangriff auf eine große Nachlässigkeit des israelischen Militärgeheimdienstes zurückgeht.
Weil er ihn nicht vorausgesehen hat, meinen Sie.
Ein so breit angelegter Angriff aus der Luft, vom Meer und von Bodentruppen seitens der Hamas wurde überhaupt nicht antizipiert. Es herrschte stundenlang ein riesengroßes Chaos. Das ist ganz schlecht für uns. Die große Befürchtung ist jetzt, dass sich diese Auseinandersetzung nicht auf den Gazastreifen beschränken lässt, sondern es auch im Norden losgeht durch die vom Iran angefeuerte Hisbollah im Libanon, in der Westbank, in Ostjerusalem und – Gott behüte! – seitens israelischer Araber in israelischen Städten, wie das im Mai 2021 der Fall war. Das würde bedeuten, dass wir am Ende einen Drei- oder Vierfrontenkrieg hätten. Die dritte große Angst ist, was mit den zahllosen israelischen Zivilisten – Männer, Frauen, Kinder, Alte – geschieht, die als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden. Das wird die Auseinandersetzung mit der Hamas viel schwieriger gestalten. Es wird unheimlich viele menschliche Tragödien geben. Das ist alles unfassbar.
Wie sehen Sie dabei die Rolle Ihrer Regierung, gegen die seit Monaten Hunderttausende wegen der geplanten Justizreform protestieren?
Es beschleicht einen sehr viel Wut auf die Regierung. Denn ich glaube, dass sie einen ganz wichtigen Anteil an diesem Debakel trägt, weil sie in den letzten Monaten grob fahrlässig an der Demontage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, einschließlich der Sicherheitskräfte, gearbeitet hat. Das ist die Quittung für den Spaltpilz, der bewässert wurde.
Es liegt der Verdacht nahe, dass die Hamas diese Situation gezielt ausnutzt.
Ja, das hat für die Hamas gepasst. Das alles erinnert an den Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren, der unter ähnlichen Vorzeichen stattfand. Jetzt haben wir einen Krieg, von dem wir gestern Abend noch nicht wussten, dass er stattfinden würde. Die Hamas wollte sich diesen historischen Erfolg offenbar nicht nehmen lassen.
Der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, sagte, der Krieg werde in ein oder zwei Wochen vorbei sein. Glauben Sie das auch?
Das hängt davon ab, was das Ziel des Krieges ist. Wenn man die Hamas als Reaktion empfindlich schädigen, aber im Sattel lassen will, dann könnte das Ganze in drei oder vier Tagen vorbei sein. Wenn das Ziel ist, die Hamas zu vernichten, dann wird das ohne eine Bodenoffensive nicht gehen. Und davor hat die israelische Politik Angst. Deshalb spricht sie plötzlich auch von der Möglichkeit einer großen Notstandsregierung – wozu sich der Oppositionsführer schon bereit erklärt hat. Wenn man also zu dem Ergebnis kommt, dass man ein solches Raubtier wie die Hamas sich nicht im Garten nebenan in Ruhe entwickeln lassen darf, dann wird es eine Bodenoffensive mit einer Menge getöteter Soldaten geben. Das würde eine ganz schwierige Schlacht. Dass die in zwei Wochen beendet wäre, wage ich zu bezweifeln.
Würden Sie eine solche Schlacht für richtig halten?
Vom Gefühl her erst mal ja. Die Frage wäre: Wer managt dann den Gazastreifen? Im Übrigen gibt es neben der Hamas noch extremere Kräfte. Dann hätten wir auch nicht viel gewonnen. Das sind ganz schwierige strategische Entscheidungen, die überdies Konsequenzen für das Verhältnis zur Hisbollah, zum Iran und zu Saudi-Arabien hätten. Das kann man nicht mit dem Gefühl entscheiden.
Was erwarten Sie vom Westen?
Wir haben den moralischen Anspruch, uns gegen diesen unfassbaren Angriff mit allen Mitteln verteidigen zu dürfen. Momentan dürfen wir das auch. Das wird aber irgendwann aufhören. Das ist immer so.
Mit welcher Entwicklung rechnen Sie in den nächsten Tagen?
Wir müssen noch mit viel Raketenalarm rechnen. Und wir werden sehr genau schauen müssen, ob es zu einer großen Koalition der anderen Seite kommt. Das würde einen langen Krieg bedeuten. Und da macht man sich natürlich vor allem Gedanken darüber, was das für die eigene Familie bedeutet.