Berlin – Während sich Oppositionsführer Friedrich Merz am Rednerpult des Bundestags noch über den „Irrsinn” der Ampel-Koalition beschwert, blättert Olaf Scholz auf der Regierungsbank noch einmal in seinem Manuskript - was man halt so macht, wenn man als nächster dran ist: Noch mal schnell schauen, ob auch alles so passt. Scholz ist schnell damit fertig. Wahrscheinlich hat er sich schon zu diesem Zeitpunkt entschieden, dass er den Text nicht brauchen wird.
Als er wenige Minuten später rüber zum Pult geht, nimmt er zwar die paar Seiten mit, die man ihm aufgeschrieben hat. Aber nur ganz am Anfang schaut er noch zwei, drei Mal drauf. „Verehrter Kollege Merz, ich habe Ihnen eben sehr genau zugehört”, sagt er zu Beginn. „Ich will Ihnen eins antworten: Unterschätzen Sie unser Land nicht, unterschätzen Sie nicht die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. In schweren Zeiten wächst unser Land über sich hinaus, wir haben eine gute Tradition uns unterzuhaken, wenn es schwierig wird.” So weit stand es ungefähr auch noch in seinem Text.
Scholz mit geballter Faust und erhobenem Zeigefinger
Was dann folgt ist aber ein Olaf Scholz, wie man ihn in seinen neun Monaten als Kanzler zumindest im Bundestag noch nicht erlebt hat: Angriffslustig, emotional, fast schon wütend. Mit der linken Hand hält er sich am Pult fest. Die rechte ballt er immer wieder zu Faust, aus der er manchmal den Zeigefinger herausstreckt, in Richtung Friedrich Merz, der halbrechts in der ersten Reihe der CDU/CSU-Fraktion sitzt.
„Sie reden einfach am Thema und an den Problemen dieses Landes vorbei. Und das ist wirklich ein ganz, ganz großes Problem”, sagt Scholz zu Merz. „Und wenn andere die Probleme lösen, die Sie noch nicht mal erkannt haben, dann reden Sie auch noch drumrum.”
Kanzler lässt Luft ab
Der Kanzler kann also auch Attacke. Im Bundestag hat er das auch schon vorher mal durchblicken lassen, zum Beispiel als es ganz am Anfang seiner Amtszeit um die Impfpflicht ging. Aber noch nie ging er im Parlament so aus sich heraus. Einen solchen Auftritt hat Scholz bisher nur einmal hingelegt, am 1. Mai in Düsseldorf auf einer DGB-Kundgebung, auf der er wenige Woche nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ausgepfiffen wurde.
Diesmal ist das Publikum aber ein anderes - und auch die Situation. Scholz hat ein paar schwierige Wochen hinter sich, in denen der Druck, etwas gegen die drastischen Preissteigerungen zu tun, immer weiter gewachsen ist. In denen ihm immer wieder Zaudern und Zögern vorgeworfen wurde. Am Sonntag hat er mit seiner Ampel ein 65-Milliarden-Paket zur Entlastung der Menschen in Deutschland geschnürt. Und jetzt wirkt er, als wolle er einfach mal Luft ablassen.
Merz: „Sammelsurium an Kompromissen”
Die erwartbaren Attacken von Merz zum Auftakt der Generaldebatte kommen ihm da nur gelegen. Der CDU-Chef wirft Scholz vor:
- mit seiner Zögerlichkeit bei den Waffenlieferungen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu verlängern.
- keinen Kompass in der wirtschaftlichen Krise zu haben. Die Entscheidungen der Regierung zur Unterstützung der Bürger seien ein „Sammelsurium an Kompromissen auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners”.
- der Ankündigung des 100-Milliarden-Programms für die Bundeswehr zu wenige Taten folgen zu lassen. „Wir können den von Ihnen gegebenen Zusagen nicht vertrauen.”
- mit dem Nein zu einem Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke den Wirtschaftsstandort Deutschland möglicherweise unwiderruflich zu schädigen.
Scholz gibt den Oppositionspolitiker
Merz macht das, was ein Oppositionsführer in einer Generaldebatte eben tut: die Regierung attackieren. Das Kuriose an dieser Debatte ist, dass auch Scholz in seiner Rede zeitweise in den Modus eines Oppositionspolitikers übergeht und einige Zeit darauf verwendet, die frühere von der CDU-Kanzlerin Angela Merkel geführte Regierung zu anzugreifen.
Während CDU-geführte Ministerien es nicht problematisch gefunden hätten, dass die Gasspeicher im letzten Jahr leer gewesen seien, habe die Ampel dafür gesorgt, dass sich das ändere, sagt er zum Beispiel. Es seien nun Entscheidungen umgesetzt worden „in einem Tempo, zu dem keine CDU-geführte Regierung in diesem Land je fähig gewesen ist”. Die Versäumnisse beim Ausbau der erneuerbaren Energien kreidet er mit dem Ausruf „Das waren Sie!” unter tosendem Beifall seiner eigenen Leute der Union an und zeigt dabei auf Merz.
Was Scholz nicht sagt: Er war selbst Teil dieser Regierung. Als Finanzminister und Vizekanzler, also als Stellvertreter Merkels. Die Bundestagsabgeordneten erleben also einen Regierungschef, der in Opposition zu einer früheren Regierung geht, der er selbst angehörte.
Scholz' Krisen-Versprechen: „Wir kommen wohl durch”
Mit seinen Attacken auf die Opposition erreicht Scholz an diesem Tag immerhin eins: Dass der Krach in der Koalition über die Laufzeiten der noch verbliebenen Atomkraftwerke in den Hintergrund gerät. Inhaltlich kommt in der Debatte übrigens nicht so viel rum: Keine neuen Ankündigungen der Regierung, keine neuen Ideen der Opposition. Aber dazu ist eine Generaldebatte vielleicht auch nicht da.
Scholz bekräftigt aber seine beiden Krisen-Versprechen an die Bevölkerung: „You'll never walk alone” - niemand wird alleine gelassen, vor allem finanziell. Und: „Wir kommen wohl durch, trotz aller Anspannungen, durch diesen Winter.” Gemeint ist die Energieversorgung. An diesen beiden Ansagen wird Scholz gemessen werden. Seine Kritik an der Opposition dürfte dagegen schon morgen kein Thema mehr sein.
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