Wuppertal – Die Skandale um sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster haben ein ganzes Land zutiefst erschüttert. Die Orte sind zu Chiffren für ein Phänomen geworden, das, so hatte es der ehemalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig gesagt, nicht am Rande, sondern mitten in der Gesellschaft stattfindet, massenhaft und in sämtlichen sozialen Schichten. Eine Zahl, die es greifbar macht: Im Schnitt finden sich in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexuell missbraucht werden.
Bald wird der parlamentarische Untersuchungsausschuss „Kindesmissbrauch“ seinen Zwischenbericht präsentieren. Er soll rund 3000 Seiten umfassen. Schon jetzt aber ist klar: Beim Schutz der Kinder wurde systemisch versagt, bei der Polizei und auch bei den Behörden. Bei den Jugendämtern wurden Hinweise nicht ernst genommen oder schlicht nicht weitergegeben, später sogar gelöscht. In Lügde reihte sich eine Ermittlungspanne an die nächste.
Welche Lehren wurden aus Lügde gezogen?
Doch was ist seither passiert, welche Lehren wurden gezogen? Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) NRW hatte am vergangenen Freitag und Samstag zu einer digitalen Fachtagung mit dem Titel „Kinderschutz seit Lügde - Erkenntnisse und Aufträge für Fachwelt, Politik und Gesellschaft“ eingeladen. Teilgenommen haben Akteure aus unterschiedlichen Bereichen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Kinder- und Jugendhilfe, Forscherinnen, Leiterinnen und Leiter von Jugendämtern, die in unterschiedlichen Foren Erfahrungen ausgetauscht, Schwierigkeiten diskutiert und Forderungen formuliert haben. Auch aus Berichten von Betroffenen wurde zitiert.
Das Fazit: Die drei Tatkomplexe haben das Land wachgerüttelt, die Politik hat Reaktion gezeigt, zahlreiche Maßnahmen wurden installiert, etwa eine Landesfachstelle zur Prävention sexueller Gewalt und eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, auch die Polizei hat den Kampf gegen Kindesmissbrauch deutlich professionalisiert. Und doch, sagte Gaby Flösser, Vorsitzende des DKSB in Nordrhein-Westfalen, „muss noch viel geschehen, um Kinder und Jugendliche zukünftig besser zu schützen“.
Es mangelt vor allem an Personal in der Kinder- und Jugendhilfe
Vor allem der Mangel an Menschen, die in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten wollen, sei dramatisch, sagt Renate Blum-Maurice, Mitglied des Landesvorstandes des DKSB in NRW und langjährige fachliche Leiterin es Kinderschutz-Zentrums Köln. Die Personaldecke in den Jugendämtern sei mitunter so dünn, dass Mitarbeiter nicht wüssten, welchem Notruf sie jetzt zuerst nachgehen sollen.
Vor allem die Angst davor, etwas falsch zu machen, sei sehr ausgeprägt. Oft gebe es die Erwartung, es dürfe bloß nichts passieren. Aber was ist ein wirklich begründeter Verdacht und was vielleicht nur ein nebulös erhobener Vorwurf? Diese Verantwortung zu übernehmen, wirke auf viele Fachkräfte abschreckend. Zudem fehle eine entsprechende Bezahlung. „Was wir brauchen, ist eine Fehler- und Dissenskultur“, sagte Blum-Maurice. Wer eine sich als falsch erweisende Entscheidung trifft, sollte sich nicht zum Verschweigen veranlasst fühlen, sondern es offenen kommunizieren können, um gemeinsam verbessern zu können, was immer im Mittelpunkt stehen sollte: Der Schutz der Betroffenen.
Männer sind für die Stellen kaum zu finden
Aber auch in anderen Bereichen seien Probleme festzustellen. Wie viele andere Jugendhilfeträger auch habe der Kinderschutzbund zum Beispiel das Problem, dass er seine Beratungskräfte eigentlich paritätisch mit Frauen und Männern besetzen will, aber immer weniger Männer für die Stellenbesetzung zu finden seien. In der Schule gebe es Lehrer, die sich in ihren Klassen engagiert dem Thema widmeten, aber wegen hoher bürokratischer Hürden entmutigt aufgeben würden.
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Eine besondere Rolle in der Debatte spielt das geplante Landeskinderschutzgesetz, das noch vor den Landtagswahlen im Mai beschlossen werden soll. NRW-Familienminister Joachim Stamp, der am Samstag als Tagungsgast eine Viertelstunde referierte, sagte, das Gesetz beinhalte die „umfassendsten Vorgaben in der ganzen Republik“. Aber er wisse auch, dass es manchen nicht weit genug gehe. Das Gesetz sei ein „Work in progress“. Stamp versprach, die Paragrafen immer wieder zu überprüfen und bei Bedarf fortzuschreiben.
Auch Familienrichter sollen zur Fortbildung
Der DKSB begrüßt zwar die Initiative, bemängelt aber, die Politik habe es versäumt, das Gesetz interdisziplinär und ressortübergreifend zu gestalten. Vorgaben für freie Träger in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch für Schulen, Justiz und Gesundheitswesen seien außen vorgelassen worden. So fehle beispielsweise die Verpflichtung zu Fortbildungen. Außerdem fehle die Verpflichtung zu Fortbildungen. Außerdem gehe es nicht an, dass etwa bei den Schutzkonzepten gegen sexuellen Missbrauch die Jugendhilfe Vorgaben bekommt, an die die Schulen sich aber nicht halten müssen.
Der DKSB NRW plädiert dafür, den Text als Artikelgesetz zu formulieren, in denen die Berufsgruppen gezielt angesprochen werden. „Es braucht gemeinsame Vorgaben für alle Akteure, um eine Kooperation auf Augenhöhe zu ermöglichen“, sagt Blum-Maurice.