Kommentar zu MerzWer „Cancel Culture“ schreit, sehnt sie meist selbst herbei
- Der CDU-Chef bemängelt den US-Import „Cancel Culture“. Doch wer importiert hier was? Ein Kommentar
Wer öffentlich seine Meinung sagt, muss mit Widerspruch rechnen. Ob am Stammtisch, im Uni-Hörsaal oder bereits im römischen Senat. Gerade dort war neben der sachlichen Gegenrede auch die unflätige Schmähung des politischen Gegners en vogue – „Halunke“, „Abschaum“, „Pestbeule“, „abscheulicher Schurke“ – Cicero kannte viele Wege, um seinen Gegenspieler Clodius verächtlich zu machen. Das, was man gemeinhin unter „Cancel Culture“ versteht, gab es also schon immer. Friedrich Merz hingegen hat das Konzept neu für sich entdeckt. In dieser Woche benannte der CDU-Chef den vermeintlichen US-Import „Cancel Culture“ als größte Gefahr für die Meinungsfreiheit.
„Cancel Culture“, das ist für manche eine bösartige Methode der politischen Linken, um Konservative, Rechte und Reaktionäre aus der öffentlichen Wahrnehmung zu drängen. Eigentlich handelt es sich dabei aber meist bloß um öffentlichen Gegenwind, der deutlich zeigt, wie wenig so mancher daran gewöhnt ist, dass sein Standpunkt in Frage gestellt wird.
„Cancel Culture“ ist längst auch ein Geschäftsmodell
„Cancel Culture“ ist längst auch ein Geschäftsmodell. Wer „gecancelt“ wird, kann nicht nur in Deutschland zuverlässig mit Talkshow-Gagen und viel öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen. Abgekanzelt werden, das kann sich richtig lohnen. Wahre „Cancel Culture“ wäre die vollständige Ignoranz, die komplette Nicht-Beachtung einer Person oder ihrer Standpunkte. Die findet (in manchen Fällen leider) kaum statt. Im Gegenteil: Wer sich gecancelt fühlt, kriegt reichlich Platz, um sein Wehklagen darüber zu verbreiten. Womit sich die Cancel-Katze in den Schwanz beißt.
Ja, Kritik ist sichtbarer geworden. Während in der Vergangenheit mediale Verstärker notwendig waren, damit sie von der Masse wahrgenommen werden konnte, kann man sie heute direkt vom Sender zum Empfänger schicken – ohne die Unterstützung von Redaktionen und für alle Welt sichtbar. Für eine Kampagne braucht es dank Plattformen wie Twitter und Instagram heute keine große Hilfe mehr.
Meinungsfreiheit ohne die Freiheit zur Gegenrede ist keine
Wer es nicht gewohnt ist, mit so viel Meinung belästigt zu werden, fühlt sich schnell „gecancelt“, wenn er sich der Kritik nicht mehr entziehen kann. Die Internet-Öffentlichkeit bietet im Gegensatz zu Berliner Edel-Italienern und schnieken Country-Klubs eben keinen Schutzraum für die vermeintliche Elite. Hier wird auf Augenhöhe diskutiert, gestritten und gepöbelt – fast wie damals im römischen Senat, nur dass man kein Senator mehr sein muss, um mitmischen zu können.
Wer „Cancel Culture“ schreit, sehnt sie meist selbst herbei – nur eben für die Gegenrede. Denn so waren die „guten alten Zeiten“ ja, als Missstände von elitären Zirkeln noch bequem unter den Teppich gekehrt werden konnten, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekam. Das war und ist die tatsächliche Gefahr für die Meinungsfreiheit. Denn die besagt, dass jeder sagen darf, was er denkt, wenn auch nicht immer straffrei. Aber eben auch, dass jeder über das, was der andere gesagt hat, sagen darf, was er denkt. Eine Meinungsfreiheit ohne die Freiheit zur Gegenrede ist keine.
Wer importiert hier eigentlich was?
Ein US-Import, wie Friedrich Merz meint, ist all das nicht. Pseudodebatten über den vermeintlich drohenden Untergang der Freiheit, die als Ablenkung von tatsächlichen, relevanten Problemen dienen, hingegen schon eher. Und der CDU-Chef gehört in diesen Tagen zu den fleißigsten Importeuren dieses amerikanischen Populismus’.
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Merz möchte lieber über die „Ökolobby“ statt über Porsches Einfluss auf Koalitionsverträge reden, lieber über „gecancelte“ Uni-Vorträge in Berlin und in den USA als über den (amerikanischen) Rückfall in eine mittelalterliche, frauenverachtende Gesellschaftspolitik. Merz warnt lieber vor dem Untergang von Wohlstand und Freiheit (und dürfte damit vor allem seinen Wohlstand und seine Freiheit meinen) als vor Klimawandel und Abbau von Menschenrechten (die weniger wohlhabende härter treffen) – und grüßt dabei munter aus seinem Privatflugzeug. Merz, so könnte man meinen, möchte ziemlich viele Themen „gecancelt“ wissen.
Angesichts solcher Rhetorik bräuchte es in Deutschland vielleicht langsam eine „Cancel Culture“, die ihren Namen auch verdient hat.