Nur wer einen Weihnachtsbaum kauft, gehört dazu? Mit seiner unseligen Tannenbaumbemerkung zeigt der CDU-Chef, wie sehr er mit der Gegenwart hadert.
Kommentar zum Christbaum als Teil der LeitkulturHat Friedrich Merz nicht alle Nadeln an der Tanne?
Er hat es wieder getan. Friedrich Merz hat mit einem seltsamen Satz ein politisches Mini-Erdbeben ausgelöst. Was er sagte, klang nur auf den ersten Blick wie eine triviale, vorweihnachtliche Shoppingempfehlung: „Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben“, sagte der Oppositionsführer der größten Volkswirtschaft Europas in einem Interview mit der „Berliner Morgenpost“, „dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen“. So weit, so scheinbar harmlos.
„Leitkultur“ als untote Stressvokabel
Dennoch stöhnt das halbe Land, Merz habe nicht alle Nadeln an der Tanne. Nicht ganz zu Unrecht. Denn das Problem an seinem Aufruf zum ordnungsgemäßen Erwerb einer Tanne ist nicht der Weihnachtsbaum. Das Problem ist einmal mehr das Wort „Leitkultur“. Die untote Stressvokabel aus Merz’ politischer Mottenkiste suggeriert eine ungemütliche Führungsarroganz. Das Ärgerliche ist, dass Merz den unschuldigen Tannenbaum kurzerhand zum kulturellen Zugehörigkeitsrequisit erklärt. Du kaufst einen Weihnachtsbaum? Dann gehörst du zu uns. Du kaufst keinen Weihnachtsbaum? Dann bist du raus.
Das ist natürlich Unfug. Millionen Deutsche kaufen keinen Weihnachtsbaum. Warum? Weil sie Muslime sind. Weil sie Juden sind. Weil sie Buddhisten sind. Weil sie keine Lust auf Weihnachten haben. Weil sie keine Tannennadeln auf dem Teppich wünschen. Weil sie kein Geld für einen Weihnachtsbaum haben. Aus eintausend anderen Gründen. Weil sie – und das ist der Kern von Merz’ Problem – eben anders sind als der CDU-Chef und trotzdem Deutsche. So schwer das für ihn auch zu verstehen ist.
Weihnachtsbaum ist kein Abgrenzungsmerkmal
Lasst meinen Baum in Ruhe. Ich möchte nicht, dass der Kauf oder Nichtkauf eines Weihnachtsbaumes zum politischen Bekenntnisvorgang wird. Weihnachtsbäume sind wunderschöne Symbole liebgewonnener Traditionen, die keine billige Schützenhilfe von Friedrich Merz benötigen.
Der Baum ist kein Abgrenzungsmerkmal. Er steht nicht für „wir“ und „die“. Er ist ein Symbol der Nächstenliebe. Niemand will ihn canceln. Niemand sollte ihn ideologisch zum nationalen Heiligtum aufblähen. Er hat es schlicht nicht verdient, dass Merz ihn in vergiftetes, politisches Lametta hüllt.
Der CDU-Chef wähnt sich als mahnende Stimme der schweigenden Mehrheit, die Weihnachtsbäume kauft, Quittungen sammelt, Schützenfeste feiert, Helene Fischer hört und samstags erst auf dem Recyclinghof Müll trennt und dann die „Sportschau“ guckt. In Wahrheit aber verraten seine Einlassungen vor allem etwas darüber, wie schwer es diesem Mann fällt, sich mit der Gegenwart abzufinden.
Das christliche Abendland mitsamt seinen Riten und Gebräuchen ist glücklicherweise noch immer stabil genug, nicht in seiner Identität erschüttert zu werden, weil nicht alle Welt eine Tanne aufstellt. Merz‘ Tannenbaum-Trara ist erschreckend nah dran am AfD-Slogan „Deutschland, aber normal“.
Merz’ populistisches Geklingel
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert machte sich prompt sehr hübsch lustig über Merz‘ Baumbemerkung und mahnte ironisch: „Neben dem Weihnachtsbaum gehören auch Würstchen mit Kartoffelsalat sowie die Loriot-Folge ‚Weihnachten mit Hoppenstedts‘ und der Film ‚Drei Haselnüsse für Aschenbrödel‘ zur deutschen Leitkultur.“
Was soll das überhaupt sein, „Leitkultur“? Im Entwurf für ihr neues Grundsatzprogramm stellt die CDU fest, dass nur diejenigen „sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden“ könnten, die sich „zu unserer Leitkultur bekennen“. Dazu gehöre: die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen, der Rechtsstaat, Respekt und Toleranz, das „Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit“ sowie die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Plus natürlich, muss man ab sofort hinzufügen, der pünktliche Kauf eines angemessenen Weihnachtsbaumes im Advent.
Weihnachten ist die Gelegenheit, auf politische Parolen zu verzichten
Die Weihnachtsbaumsentenz knüpft nahtlos an Merz’ frühere Einlassungen zur Migration an. Von den ukrainischen Kriegsflüchtlingen, denen er eiskalt „Sozialtourismus“ vorwarf, bis zu arabischstämmigen Schülern, die er als „kleine Paschas“ abstempelte. Sein populistisches Geklingel über Flüchtlinge gipfelte zuletzt in dem unseligen Zahnarzt-Satz („Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine“), den die Fachwelt schnell ins Reich der Mythen verwies. Aber einmal in der Welt entfalten all diese Bemerkungen schnell ihre giftige Wirkung. Es ist das Merz-Prinzip: Zündeln, Zurückrudern, Zusehen.
Im Übrigen wäre Weihnachten auch eine ganz hervorragende Gelegenheit, mal ein paar Tage auf politische Parolen zu verzichten, Stichwort „Stille Nacht“.
Nein, es bedeutet nicht zwingend den Verlust von Zugehörigkeitsstabilität, wenn nicht alle Deutschen leben wie Friedrich Merz aus dem Wahlkreis Hochsauerlandkreis, wo sich – sicherlich nur ein putziger Zufall – die Hochburg des Weihnachtsbaumanbaus in Deutschland befindet. Mal abgesehen davon, dass die kommerzielle Ausgestaltung des Festes ohnehin eine hochindividuelle, Moden unterliegende Angelegenheit ist, dass viele Menschen aus anderen Kulturen in Deutschland erfreulicherweise kurzerhand Weihnachten mitfeiern (schon wegen der Kinder) und dass in der Bibel von Schoko-Weihnachtsmännern und Nordmanntannen schon deshalb wenig zu lesen ist, weil Jesus im Nahen Osten auf die Welt kam.
Eine Leitkulturdebatte unter der Nordmanntanne braucht niemand
Eine moderne Volkspartei würde, anders als Merz‘ CDU, nicht ungeschickt der AfD nacheifern und immer nur einseitig Wohlverhalten einfordern, sondern sich auch selbst endlich öffnen für Minderheiten und sich stark machen für Vielfalt, statt das Land mit politischen Spaltpilzkulturen zu kontaminieren. Sicher ist: Man kann auch ohne ein Nadelgehölz im Zimmer ein „richtiger Deutscher“ sein.
Im Übrigen wäre Weihnachten auch eine ganz hervorragende Gelegenheit, mal ein paar Tage auf politische Parolen zu verzichten, Stichwort „Stille Nacht“. Leitkulturdebatten unter der Nordmanntanne braucht niemand. Was für ein alberner Aufruf, sich im Sinne eines scheckheftgepflegten Deutschtums eine Tanne zu beschaffen. Was kommt als nächstes? Merz fordert eine staatliche Weihnachtsbaum-Kaufprämie? Ordnungsämter kontrollieren die Baumdichte?
Es ist übrigens derselbe Merz, der vor wenigen Jahren erst sagte: „Es geht den Staat nichts an, wie ich mit meiner Familie Weihnachten feiere. Da kann er mir Ratschläge geben, aber er mischt sich bitte nicht ein.“ Manchmal sagt eben auch ein Friedrich Merz richtige Dinge. Leider viel zu selten.