Ein genauer Blick auf die Wahlergebnisse lohnt auch außerhalb von Deutschland und Frankreich: Wie groß ist der Rechtsruck in Italien wirklich und wie demokratisch sind die neuen Orban-Konkurrenten?
Nach der EU-WahlEin Rechtsruck geht durch Europa – doch nicht überall
„Das muss uns Zuversicht geben“, sagt Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke am Dienstag im EU-Parlament. Während Europa nach dem Rechtsruck bei der Europawahl noch unter Schock steht, verweist Reintke im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) auf die vielen Länder in der EU, in denen Rechte kaum eine Chance hatten. Es seien gerade jene Staaten, in denen Grüne und Sozialdemokraten in den letzten Jahren gegen problematische Regierungen gekämpft haben. Ungarn und Polen zählt sie auf, aber auch in den baltischen und nordischen Ländern wie Schweden gibt es diese Entwicklung. Länder, in denen Rechte an die Macht gekommen sind.
„Viele rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien gehen mit Forderungen in den Wahlkampf, die sie dann nicht erfüllen, wenn sie Zugang zu Macht erhalten“, sagt Reintke dem RND. In Finnland habe etwa die Regierung Sozialausgaben massiv gekürzt. Ihr Fazit: „Wir haben keinen durchgehenden Rechtsruck.“
Es ist eine Beobachtung, die der Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Brüssel, Tobias Mörschel, bestätigt. „Es gibt Abnutzungserscheinungen in Ländern, in denen rechte Parteien an der Regierung beteiligt sind“, sagt Mörschel dem RND. In Schweden und Finnland seien rechte Parteien entzaubert worden, nachdem sie an die Macht gekommen waren. „Aber wir sehen an Italien, dass ein Entzaubern nicht zwangsläufig funktioniert.“ Es gebe kein Patentrezept für alle EU-Länder.
Etwa 40 Sitze können die Rechten voraussichtlich im neuen EU-Parlament dazugewinnen, etwas weniger, als Umfragen zunächst voraussagten. In Polen ist die rechtspopulistische PiS erstmals seit 2015 bei einer Wahl nicht als stärkste Kraft hervorgegangen. Der konservative Donald Tusk geht gestärkt aus dieser Wahl hervor, nicht jedoch die gesamte polnische Regierung. Denn seine Stimmen gingen zum Teil zulasten seiner Regierungspartner.
In der Slowakei wurde die Partei des populistischen Regierungschefs Robert Fico nur zweitstärkste Kraft. Nach dem Attentat auf ihn vor wenigen Wochen hatte Fico der Opposition vorgeworfen, eine Hetzkampagne gegen ihn zu führen. Beobachter waren davon ausgegangen, dass ihm dies zusätzliche Prozentpunkte einbringen werden. Doch der 59-Jährige konnte aus dem Attentat, das für eine verstärkte Polarisierung und einen aufgeheizten Wahlkampf gesorgt hatte, kaum zusätzliche Wählerinnen und Wähler mobilisieren.
Eine Überraschung gab es auch in Ungarn, wo die Fidesz-Partei des rechtspopulistischen Regierungschefs Viktor Orban erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt weniger als 50 Prozent der Stimmen bekam. Die neue Partei Tisza seines Herausforderers Peter Magyar erzielte dagegen aus dem Stand fast 30 Prozent. „Das setzt Orban unter Druck“, sagen ungarische Diplomaten mit Blick auf die nächste Parlamentswahl in Ungarn. Nun wird Orban nur noch elf statt 13 Abgeordnete nach Brüssel schicken können, Tisza kommt auf sieben Mandate.
Orbans Fidesz-Partei war vor einigen Jahren noch Teil der konservativen EVP-Faktion, der auch CDU/CSU angehören. Doch die vielen Provokationen der Fidezs-Abgeordneten und ihr Wunsch, die EVP nach rechts neu auszurichten, haben schließlich zum Aus geführt. Nun gilt es als ausgemacht, dass Tisza der EVP beitritt. „Ich bin sehr glücklich, dass die neue Oppositionspartei in Ungarn, die das pro-demokratische, pro-europäische und pro-rechtsstaatliche Gesicht Ungarns zeigt, sich der EVP anschließen will“, sagte EVP-Fraktionschef Manfred Weber am Dienstag. Die Gespräche laufen bereits.
Kurswechsel in Ungarn?
Doch sind Hoffnungen auf einen Kurswechsel in Ungarn berechtigt? „Orban hat einen Dämpfer erhalten, aber sein Konkurrent Peter Magyar ist ihm gar nicht so unähnlich“, meint FES-Direktor Mörschel. „Das Programm von Magyar ist bislang praktisch Orbanismus ohne Orban.“ Die Tisza könne eine sehr ähnliche Politik machen, nur mit anderen Gesichtern.
Nicht nur in Osteuropa haben demokratische Parteien dazugewonnen, auch in Spanien und Portugal wurde der Vormarsch der rechtsextremen Parteien gestoppt.
In Italien kann die Konkurrentin von Postfaschistin und Regierungschefin Giorgia Meloni ebenfalls Zugewinne verbuchen. „Das heißt, auch in Italien gibt es keinen rechten Durchmarsch“, sagt Mörschel. Bei aller Rede vom Rechtsruck müsse man daher berücksichtigen: „Nicht ganz Europa wählt rechts.“