Als Anerkennung für ihre Lebensleistung sollen Gastarbeiter der ersten Generation die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten können. Bergmann Kadir Uygun spricht über die späte Ehre.
Einbürgerung„Eine ganze Generation wurde 40 Jahre lang politisch entrechtet“
Kadir Uygun ist mehr als ein Vierteljahrhundert tief hinab gefahren in steinige deutsche Erde. Er war Bergmann in der Zeche Westfalen in Ahlen, geboren wurde er in Kütahya, Anatolien. Seinen ersten Schritt auf deutschen Boden setzte er am 10. September 1973. Zwei Jahre wohnte er in einem Bergmannsheim mit Mehrbettzimmer und Gemeinschaftsdusche.
Dann holte er seine Familie nach, damals Frau und die drei Jahre alte Tochter. Die Zeche vermittelte eine Wohnung, 65 Quadratmeter. Die Familie wuchs, zwei weitere Söhne kamen zur Welt, beide sind heute promovierte Maschinenbauingenieure und arbeiten an einer deutschen Uni. Uygun leitete einen türkischen Fußballverein, als Vorstandsvorsitzender, wie er sagt.
1999, kurz vor der Zechenschließung ging er in Frührente, seit 2011 ist Kadir Uygun Vollrentner, in Ahlen lebt er noch immer, inzwischen mit fünf Enkelkindern und zwei Urenkeln. Seine Tochter starb 2013 an Brustkrebs. Gewählt hat der 71-Jährige hier noch nie. Kadir Uygun ist seit fast 50 Jahren Türke in Deutschland. Er sagt: „Natürlich ärgere ich mich. Aber mir geht es gut hier. Ich kann mich nicht beklagen.“
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Doppelte Staatsbürgerschaft für Menschen wie Kadir Uygun
Menschen wie Kadir Uygun sollen nun bald vom deutschen Staat eine Anerkennung erhalten. Sie dürfen die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, ohne ihren türkischen Pass abgeben zu müssen. Doppelte Staatsbürgerschaft nennt man das. Bislang wurde ihnen diese verwehrt. Ganz ohne Leistung wird die deutsche Staatsbürgerschaft für die Gastarbeitenden der ersten Generation auch jetzt nicht zu haben sein.
Im Ampelkoalitionsvertrag steht dazu Folgendes: „In Anerkennung ihrer Lebensleistung wollen wir die Einbürgerung für Angehörige der sogenannten Gastarbeitergeneration erleichtern, deren Integration lange Zeit nicht unterstützt wurde, indem wir für diese Gruppe das nachzuweisende Sprachniveau senken.“ Der bislang geforderte Wissens-Tests über Deutschland soll für diese Gruppe entfallen. Für Analphabeten ist eine „Härtefallregelung“ vorgesehen. Sollte Kadir Uygun, der gutes Deutsch spricht, diese Hürde nehmen, wird er den Pass beantragen, sagt er. Darauf gewartet hat er schon lange nicht mehr, die Hoffnung, irgendwann doch auch Deutscher zu werden, hatte er längst aufgegeben. Früher habe es ihn manchmal wütend gemacht, dass der deutsche Staat so mit ihm umspringt, heute aber freue er sich, dass es doch noch passiert. „Es ist für uns ein tolles Signal.“
Deutschland hat wieder eine Einwanderungsdebatte
Seit Ende vergangener Woche hat Deutschland mal wieder eine Einwanderungsdebatte. Und das, obwohl das Ampelbündnis eigentlich nur umsetzen will, was im Koalitionsvertrag festgezurrt ist: Eine Reform des Einbürgerungsrechts. Um den Fachkräftemangel auszugleichen, soll jungen Menschen das Erlangen des deutschen Passes deutlich erleichtert werden. Doch jetzt, wo es konkret werden soll, werden in manchen politischen Lagern alte Reflexe getriggert. Die Rhetorik wird zunehmend schärfer. Der deutsche Pass, so sagen es Abgeordnete von CDU und CSU, dürfe nicht verramscht werden. Für sie ist er eine Auszeichnung, ein Privileg, das weltweit Türen öffnet. Und auch der eigene Koalitionspartner von der FDP will plötzlich nicht mehr mitziehen. Erstmal die Abschiebungen prüfen, erst dann einbürgern. Keiner soll schließlich glauben, der deutsche Pass würde vergeben wie Gutscheincodes beim Online-Shopping. So einen Pass muss man sich verdienen.
Die Neufassung des Paragrafen betrifft eben aber auch Menschen, die schon seit langer Zeit auf die Möglichkeit warten, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu bekommen. Es sind die Gastarbeitenden der ersten Generation, viele von ihnen türkeistämmig. Sie haben viele Jahrzehnte in Deutschland gearbeitet, oft in Stellen, die damals sonst kaum zu besetzen gewesen wären. Am Band, in der Zeche, auf dem Bau, bei der Müllabfuhr, als Reinigungskraft.
Die aktuelle Debatte werde vor allem auf dem Rücken genau dieser Menschen ausgetragen, sagt Tayfun Keltek, Vorsitzender des NRW-Integrationsrats. Das alles erinnere ihn an die Zeit von Roland Koch. Der hatte im hessischen Landtagswahlkampf 1999 als nahezu aussichtloser CDU-Spitzenkandidat eine Unterschriftenaktion gegen den von Rot-Grün geplanten Doppelpass ins Leben gerufen und billigend Stimmen von Rechtsaußen in Kauf genommen. Koch wurde Ministerpräsident. Politische Gegner warfen ihm Hetze vor. Das war nur sechs Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen, bei dem fünf Menschen starben. Mevlüde Genç, die in jener Nacht zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor, hatte 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, mit der Begründung: „Ich lebe in Deutschland, also will ich Deutsche sein.“ Über den parlamentarischen Streit wird sie sich nicht mehr äußern können. Vor etwa vier Wochen, am 30.Oktober, ist sie gestorben.
Aus Sicht der Türkeistämmigen war Kochs Kampagne einer der dunkelsten Stunden deutscher Integrationspolitik. Die Stimme von Tayfun Keltek überschlägt sich beinahe, wenn er darüber nachdenkt, dass manche Politiker in der nun schwelenden Debatte über die Staatsbürgerschaftsreform rhetorisch eben jenem Roland Koch nacheiferten. „Wer das Wort verramschen benutzt, hat nichts verstanden“, sagt er. „Er würdigt Menschen herab, die ihr ganzes Leben hier gearbeitet haben. Er schürt Rassismus und nimmt in Kauf, dass sie wieder zur Zielscheibe rassistisch motivierter Morde in diesem Land werden. Das ist eine bodenlose Ungeheuerlichkeit.“
Dass gerade Friedrich Merz und seine CDU wieder alte Klischees bemühten, seit entsetzlich. „Ich kann mir das nur so erklären, dass die CDU potenzielle Wählergruppen am rechten Rand wieder für sich gewinnen will.“ Eine Staatsbürgerschaft sei ein wichtiger Integrationsanreiz. Die CDU wisse ganz genau, dass die doppelte Staatsbürgerschaft bei Zuwanderern aus der EU längst die Regel sei. Aber auch bei Menschen aus Iran, Marokko und Afghanistan, wo anders als in der Türkei eine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft gesetzlich nicht möglich ist. In Deutschland leben derzeit laut statistischem Bundesamt 2,9 Millionen Doppelstaatler, 276.000 davon stammen aus der Türkei, die von Ausnahmenregelungen profitiert haben. Etwa 1,5 Millionen der hierzulande lebenden Türkinnen und Türken haben keinen deutschen Pass.
Die Gastarbeitenden kamen zu einer Zeit, da Deutschland wie heute ein riesiges Arbeitsplatzloch zu stopfen hatte. Im Jahre 1961 schloss die Bundesrepublik mit der Türkei das sogenannte Anwerbeabkommen. In darauffolgenden zwölf Jahren kamen fast 900.000 Menschen nach Deutschland. Ihre Geschichten sind oft erzählt worden, an ihren Schicksalen wird an Jahrestagen Anteil genommen, mit festlichem Bankett und freundlichen Worten des Bundespräsidenten. So wie vergangenes Jahr zum 60. Jahrestag des Abkommens. Doch das, was sie am meisten wollten, bekamen sie nicht: Die deutsche Staatsbürgerschaft, ohne die türkische aufzugeben.
Was damals passierte, hatten beide Seiten so nicht geplant. Deutschland wurde nicht nur Arbeitsort auf Zeit, sondern wurde Verwurzelung, wurde Heimat. Die Regierung musste eine Lektion in Sachen Menschsein lernen. Menschen lassen sich nicht verschieben wie Zahlen in einer Tabelle, leisten nicht einen Beitrag für die Volkswirtschaft, ohne Volk sein zu wollen. Trotz ständiger Diskursimpulse seitens der türkischen Verbände, diesen Menschen durch Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft Anerkennung und die Möglichkeit zur politischen Teilhabe zu geben, wurde ihrer Forderung ein ums andere Mal eine Absage erteilt.
Die Migrantinnen und Migranten aus der Türkei bekleideten Ehrenämter in Städten und Gemeinden. „Wir haben lange für das kommunale Wahlrecht gekämpft“, sagt Gökay Sofuoğlu, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Keine Chance. Entweder Deutscher oder Türke, beides geht eben nicht.
Ganze Generation politisch entrechtet
Das hatte zur Folge, dass die Gastarbeitenden weder in Deutschland noch in der Türkei wählen durften. In Deutschland nicht, weil sie keine Staatsbürger waren, in der Türkei nicht, weil Türkeistämmigen bis 2008 im Ausland der Urnengang verwehrt wurde. „Letztlich wurde eine ganze Generation 40 Jahre lang politisch entrechtet.“ Deutschland habe sich damit selbst geschadet, die Chance vertan, die Migrantinnen und Migranten in die politische Mitte zu holen. Stattdessen habe man bei den Kindern und Enkelkindern der ersten Generation Politikverdrossenheit geschürt. „Sie haben sich von der deutschen Politik, teils auch von der Gesellschaft abgewendet, weil sie es als Demütigung empfunden haben, wie mit ihren Vorfahren umgegangen wurde“, sagt Sofuoğlu. „Die aktuelle Debatte zeigt, dass Deutschland bei der Zuwanderungspolitik noch immer in den 1960er Jahren lebt.“
Aber warum haben all die Zuwanderer aus Türkei denn nicht längst einfach die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt? „Das ist ein sehr emotionales Thema, das sich gerade für diese Generation nicht auflösen ließ“, sagt Sofuoğlu. Die Menschen sahen ihren sozialen Halt in der Türkei. Dort wohnten die Verwandten, die Freunde, dort standen ihre Häuser und Wohnungen. „Es geht um eine Herkunftsidentität, die sich nicht wie eine Jacke abstreifen lässt, sondern in den Menschen fest verankert ist“, sagt Tayfun Keltek. „Es ist möglich, zwei Länder zugleich seine Heimat zu nennen. Das muss auch Deutschland endlich verstehen. Dieses Land ist ein Einwanderungsland.“
Viele der Gastarbeitenden haben auf den deutschen Pass verzichtet, weil ihnen in ihrem Herkunftsland zu viele Probleme entstanden wären. Wer kein türkischer Staatsbürger mehr ist, darf nur noch für maximal drei Monate als Tourist in das Land einreisen, aus dem er einst gekommen war. Ist an Aufenthaltsfristen gebunden, muss Anträge stellen, hat Probleme beim Erben und beim Erwerb von Grund und Boden. In der Realität sehe es so aus, schildert Sofuoğlu, dass viele Rentner nun zwischen der Türkei und Deutschland pendeln. Sechs Monate hier, sechs dort. Deshalb könne auch niemand genau wissen, wie viele der noch Lebenden der ersten Generation wirklich auch in Deutschland sind.
Aber auch andersherum türmen sich die Probleme. Wer nur den türkischen Pass besitzt und ein halbes Jahr in der Türkei bleibt, riskiert sein Aufenthaltstitel hierzulande. Viele der Gastarbeitenden hätten in Deutschland nach wie vor eine Meldeadresse und ein Bankkonto, auf das die Rente überwiesen wird, sagt Sofuoğlu. Sollte das halbe Jahr der Abwesenheit überschritten werden, überweist die deutsche Rentenversicherung das Geld nicht mehr direkt, sondern an das türkische Rentensystem, das dann die Auszahlung übernimmt. Doch dabei kann es zu Verzögerungen und Bearbeitungsgebühren kommen. Es ist ein Leben mit Schikanen, das der Doppelpass beenden würde.
Über die soziale Situation der ersten Generation ist wenig bekannt. Die letzte große Studie hat die Hans-Böckler-Stiftung 2014 veröffentlicht. Demnach sind 41,8 Prozent der ehemaligen Gastarbeiter im Rentenalter in Deutschland von Armut bedroht. Damit ist die Altersarmut unter Ausländern, die aus den damaligen Anwerbeländern kamen, mehr als dreimal so hoch wie unter Deutschen über 65 Jahren. Unter den Türkeistämmigen im Rentenalter liegt die Quote sogar gut viermal so hoch. Männer, die damals aus der Türkei kamen, kommen auf eine durchschnittliche Rente von 742 Euro, noch dramatischer ist die Lage bei den Frauen. Bei ihnen sind es gerade mal 363 Euro. Das Fazit der Forscher: „Die bei uns verbliebenen ehemaligen Gastarbeiter leben heute besser als zur Zeit der Anwerbung. Gesellschaftlich sind aber viele ganz unten geblieben."
Die Bundesrepublik will es nun besser machen. Kanzler Olaf Scholz sagte in seinem Podcast, viele Frauen und Männer, die hierhergekommen seien, hätten dazu beigetragen, dass die deutsche Wirtschaft so stark sei. Für diese „tollen Frauen und Männer“ brauche es bessere Regelungen für die Einbürgerung. Doch die noch Lebenden der ersten Generation der Gastarbeitenden dürfte Deutschland damit kaum noch erreichen. Viele von ihnen hätten das Interesse an der deutschen Politik längst verloren, sagt Sofuoğlu. „Für sie ist der Doppelpass eine nett gemeinte Geste, die viel zu spät kommt.“
Kadir Uygun sei kein politischer Mensch, sagt er. Die aktuelle Debatte verfolge er kaum. Ob Pass oder nicht, Deutschland sei schon lange sein Zuhause, hier lebt seine Familie, leben seine Enkel und Urenkel, die er und seine Frau immer um sich herum haben möchten. Eines Tages aber, wenn sein Herz zu schlagen aufgehört hat, will er, dass man ihn zurückbringt aus Ahlen in seine alte Heimat, so wie die meisten der angeworbenen Gastarbeitenden aus der Türkei. Die letzte Ruhe will er finden auf dem Friedhof von Kütahya, wo auch seine Eltern liegen. Er und seine Frau werden dort wohl die letzten der Familie sein.