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Hasskriminalität in NRWHetze bis zur Morddrohung: Warum Bürgermeister Lierenfeld nicht aufgab

Lesezeit 6 Minuten
Der Bürgermeister von Dormagen, Erik Lierenfeld, spaziert mit dem Jacket in der Hand und weißem Hemd bei sonnigem Wetter durch die Dormagener Fußgängerzone.

Hat alle Anfeindungen überstanden: Erik Lierenfeld, der Bürgermeister von Dormagen

17.163 Menschen wurden in den vergangenen sechs Jahren in NRW zur Zielscheibe von Anfeindungen. Der Dormagener Bürgermeister erzählt seine Geschichte.

„Och, mir geht’s gut“, sagt Erik Lierenfeld, der Bürgermeister von Dormagen. Er hatte heute bereits ein Dutzend Termine. Hat unter anderem eine Ausbildungsmesse eröffnet, mit Experten über die Rheinwasser-Transportleitung gesprochen, durch die von Dormagen aus die angrenzenden Braunkohle-Tagebaue geflutet werden sollen. Er hat sich angehört, warum Lehrer finanzielle und organisatorische Unterstützung für einen Schülerausflug benötigen und er hat sich die Software erklären lassen, mit der er im Katastrophenfall den Krisenstab zusammenrufen kann. „Kein Tag ist wie der andere“, sagt der 38-Jährige und lacht. „Ich liebe das. Es wäre schwer aushaltbar für mich gewesen, das nicht mehr tun zu können.“

Lierenfeld ist in den Jahren 2020 und 2021 in einen Shitstorm der Querdenker-Szene geraten, weil er sich in einem Instagram-Video zum Maskentragen in Zeiten von Corona geäußert hat. Die Anfeindungen gingen bis hin zu Morddrohungen. „Das war wie eine Heuschreckenplage, die über mich hergefallen ist“, erinnert sich der Stadtchef: „Mails und Hassbotschaften in den sozialen Medien, Briefe und anonyme Anrufe: Das kam aus allen Richtungen und auf allen Kanälen.“

Die Unbefangenheit ist verloren gegangen

Das hat die Unbefangenheit vertrieben, er sei wachsamer und vorsichtiger geworden. „Gerade kurz- und mittelfristig fängt man an, sein Verhalten zu ändern, ohne es zu wollen. Das passiert ganz unterbewusst“, erklärt der SPD-Politiker, als ob er von einem anderen Menschen spricht. Die altbekannten Wege, die er damals plötzlich gemieden hat. Die Strecken, die er im Auto gefahren ist, obwohl er diese zuvor doch immer zu Fuß gegangen war. Die Sicherheitsvorkehrungen durch die Polizei, über die er nicht sprechen darf. Und dann gelegentlich der Blick nach hinten, ob da nicht doch noch jemand steht.

„Das war heftig, vor allem die Sorge um meine damals schwangere Frau“, fügt er leise hinzu. Er habe „lange und ernsthaft“ überlegt, ob er deshalb weitermacht. „Ist es das wert?“, habe er sich gefragt. Etwa ein Jahr lang gingen die Beleidigungen in den sozialen Netzwerken noch weiter. Zwar nicht mehr so geballt wie anfangs, aber immer wieder vereinzelt.

380 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger in NRW

Lierenfeld hat in Dormagen eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Bei der Kommunalwahl im Mai 2014 sorgte der damals 27-Jährige für eine heftige Überraschung, als er sich im ersten Wahlgang mit 52,1 Prozent der Stimmen gegen den CDU-Amtsinhaber durchsetzte. Sechs Jahre später gewann er die Bürgermeisterwahl klar mit beeindruckenden 63,7 Prozent. Jetzt also, nachdem er durch die Drohungen „etwas die Leichtigkeit verloren“ habe, der dritte Anlauf bei der Kommunalwahl im Herbst 2025?

Von 2019 bis 2023 hat die nordrhein-westfälische Polizei 380 Straftaten gegen Amts- oder Mandatsträger registriert. 2020, dem Jahr mit dem Höchstwert, waren es 160. Dies ist einer Statistik des Innenministeriums zu entnehmen. Ansonsten schwankte die Zahl der jährlichen Übergriffe. 2022 beispielsweise wurden nur 43 Straftaten registriert, im vergangenen Jahr aber bereits wieder 75. Und im laufenden Jahr sind es bisher erst 23. In erster Linie ging es um Drohungen, Beleidigungen oder üble Nachrede. Sieben Personen jedoch sind seit 2019 auch Opfer von Körperverletzungen geworden, zwei davon im noch laufenden Jahr.

Mehr als ein Drittel der Menschen in Kommunalpolitik und Verwaltungen berichten von Anfeindungen

Die Dunkelziffer aber dürfte hoch sein. Nicht alle Fälle werden zur Anzeige gebracht. Das zeigt auch eine Studie, an der neben dem Bundeskriminalamt auch drei kommunale Spitzenverbände mitgearbeitet haben. Für den so genannten Motra-Report werden regelmäßig Amtsträgerinnen und Amtsträger aus ganz Deutschland befragt, in welchem Maß sie mit Hass, Hetze und Gewalt konfrontiert sind.

Demnach haben 36 Prozent der Befragten in den sechs Monaten vor der jüngsten Erhebung im Sommer dieses Jahres Anfeindungen und Gewalt erlebt. 28 Prozent gaben an, bei der nächsten Kommunalwahl nicht mehr antreten zu wollen. Aus vorherigen Motra-Berichten ist bekannt, dass fast alle Betroffenen aufgrund der Angriffe an psychischen und physischen Folgen leiden.

Wir dürfen nicht alle davonlaufen, auch wenn’s mal hässlich wird
Erik Lierenfeld

Lierenfeld hat damals weitergemacht, weil er „sonst das Gefühl gehabt hätte, ich überlasse diesen Leuten das Feld“. Ob das mutig gewesen sei? „Nein, nein“, sagt der Bürgermeister, und es wirkt ehrlich: „Verantwortungsvoll, das trifft es schon eher. Wir dürfen nicht alle davonlaufen, auch wenn’s mal hässlich wird.“ Geholfen habe ihm damals vor allem der Zuspruch im persönlichen Umfeld und von zahlreichen Bürgern. „Mach weiter, lass dich nicht kleinkriegen“, habe man ihm auf der Straße zugerufen. „Das hat mich bewegt und bestärkt.“

„Wir dürfen nicht alle davonlaufen, auch wenn’s mal hässlich wird“

Wurden die Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker früher meist in den Staatsschutzabteilungen von Polizei und Staatsanwaltschaften bearbeitet, kümmert sich seit 2019 auch die „Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime“ (ZAC) in Köln um diese Fälle. Und zwar immer dann, wenn es sich, wie im Erlass definiert, „um Personen in exponierter Stellung“ handelt, erklärt der Sprecher der ZAC. „Außer Kommunalpolitikern können dies beispielsweise noch Geistliche, Journalisten oder Aktivisten sein, die sich öffentlich geäußert haben.“

Um derartigen Anfeindungen zu begrenzen, wurden auf Länder- und Bundesebene schon mehrfach Gesetze verschärft. Ein neuer Gesetzentwurf der Bundesregierung, der bereits den Bundesrat passiert hat, sieht jetzt unter anderem vor, dass Nötigung kommunalpolitisch Aktiver genauso bestraft wird wie beispielsweise Nötigung des Bundespräsidenten oder anderer Spitzenpolitiker – nämlich mit bis zu zehn Jahren Haft.

8865 Menschen in NRW wurden von Rechtsextremen bedroht

Trotzdem scheinen die Behörden überfordert, den Terror gegen Privatleute in den Griff zu bekommen, der schließlich nicht nur Amts- und Mandatsträger betrifft. Seit Januar 2019 sind bis heute insgesamt 17.163 Menschen in NRW ein „Angriffsziel“ gewesen. Dass heiß, sie wurden ernstzunehmend bedroht oder sogar körperlich angegriffen. Dies ist einer Antwort der Landesregierung auf Anfrage der AfD-Fraktion im Landtag zu entnehmen. 8865 Personen wurden von Rechtsextremen bedroht, 3040 von Linksextremisten, bei 3712 Attacken war der Hintergrund der Täter nicht klar, 354 Menschen wurden aus religiösen Gründen verfolgt oder unter Druck gesetzt und 1192 Opfer waren Ziel von „auslandsbezogenem Extremismus“, etwa von kurdischen oder türkischen Tätern.

Er selbst werde schon lange nicht mehr bedroht, berichtet Lierenfeld. Trotzdem sei es unübersehbar, wie das Klima auch für seine Mitarbeitenden immer rauer werde. Zuletzt sei ein Kollege bespuckt und eine Kollegin geschubst worden. Im Juli zertrümmerte ein 35-Jähriger mit einem Baseballschläger einiges Mobiliar im Rathaus, weil er mit einer Verwaltungsentscheidung nicht einverstanden war. Eineinhalb Jahre zuvor hatte ein 28-Jähriger sich selbst und eine Mitarbeiterin des Jugendamtes sogar mit Benzin bespritzt und drohend ein Feuerzeug gezückt.

„Zum Glück konnte der Mann überwältigt werden“, berichtet Lierenfeld. Insgesamt 88 Anzeigen gegen Unbekannt hatte er vor drei Jahren während des Shitstorms erstattet. Ein paar Strafbefehle, einige wenige Verurteilungen, überwiegend jedoch seien die Ermittlungen ohne Ergebnis eingestellt worden. „Trotzdem muss man es immer versuchen, darf diese Leute nicht einfach so davonkommen lassen“, sagt er. Und die Kommunalwahl im kommenden Jahr, tritt er dann noch einmal an. „Ja“, sagt Lierenfeld. Er habe die Entscheidung gemeinsam mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter getroffen.