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Kritik an LandesregierungIn NRW leben 3,3 Millionen armutsgefährdete Menschen

Lesezeit 4 Minuten
Münzen im Wert von fünf Euro werden in Paderborn über ein rotes Portemonnaie gehalten.

Die Einkommensentwicklung ist in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zu Westdeutschland weiterhin unterdurchschnittlich.

NRW hat die höchste Armutsgefährdungsquote aller deutschen Flächenländer. Experten nennen Gründe für die Lage - und haben Lösungsvorschläge.

Am 23. Februar ist Bundestagswahl. Neben den derzeit dominierenden Themen wie Migration und Wirtschaft beschäftigt viele Wählerinnen und Wähler das Thema Armut - gerade in Nordrhein-Westfalen. NRW weist laut der Landesregierung mit über 18 Prozent die höchste Armutsgefährdungsquote aller Flächenländer auf, das entspricht rund 3,3 Millionen Menschen.

„Allein die Stadt Gelsenkirchen ist in diesen Statistiken in Deutschland neben weiteren Ruhrgebietsstädten traurige Spitze“, sagte der Landespräsident des Sozialverbands VdK, Horst Vöge, auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa.

Die Kinderarmut sei in NRW sogar die höchste aller Bundesländer (24,6 Prozent Armutsgefährdungsquote) - noch vor den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen. Zudem: 310.000 ältere Menschen in NRW kämen ohne Grundsicherung im Alter nicht über die Runden. „Das sind zehn Prozent mehr als vor fünf Jahren“, sagte Vöge.

Wann gilt man als arm?

„Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens der Bevölkerung zur Verfügung hat“, heißt es auf der Webseite des Zentralen statistischen Auskunftsdiensts des Landes. Die Armutsgefährdungsschwelle lag im Jahr 2023 für einen Einpersonenhaushalt in NRW laut der Landesregierung bei 1.233 Euro pro Monat.

Dem Kölner Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge zufolge sind die drei größten Armutssparten in NRW die Erwerbsarmut im Niedriglohnsektor, Familienarmut - besonders von Alleinerziehenden und deren Kindern (45,7 Prozent Armutsgefährdungsquote) - sowie Altersarmut wegen längerer Arbeitslosigkeit und niedriger Renten.

Wieso ist NRW so stark betroffen?

Doch wieso ist NRW so stark von Armut betroffen? „Armut ist seit jeher ein urbanes Phänomen, und in NRW gibt es besonders viele Großstädte“, erklärt Butterwegge.

„Außerdem liegt hier mit dem Ruhrgebiet das Armenhaus der Republik, wo sich der nicht bewältigte Strukturwandel weg von Kohle und Stahl auswirkt.“ Dieser führte laut VdK zu einer hohen Arbeitslosenquote, die laut der Bundesagentur für Arbeit im Dezember bei 7,5 Prozent lag (bundesweit 6,0 Prozent).

Zudem seien zahlreiche Kommunen des Landes überschuldet und daher nicht in der Lage, mehr als die gesetzlich vorgeschriebenen sozial-, kultur- und bildungspolitischen Pflichtleistungen für ihre Bürgerinnen und Bürger zu erbringen. Sie könnten Armut daher kaum erfolgreich begegnen.

Welche Folgen hat die Armut für die Betroffenen?

„Neben wenig Geld im Portemonnaie gibt es Benachteiligungen in fast allen Lebensbereichen: im gesundheitlichen, im kulturellen und im Bildungsbereich“, sagt Armutsforscher Butterwegge. VdK-Landespräsident Vöge ergänzt: „Bei der Wohnungssuche haben Menschen mit einem niedrigen Einkommen extreme Schwierigkeiten“. Hinzu kämen die steigenden Zahlen von Menschen, die zur Tafel gehen müssen.

Armut führe häufig zu Einsamkeit und höherer Anfälligkeit für zahlreiche chronische Erkrankungen. „Zudem sehen wir Probleme bei der medizinischen Versorgung, weil viele etwa die Zusatzleistungen nicht bezahlen können“, so Vöge.

Welche Rolle spielt die Landespolitik?

„Die nordrhein-westfälischen Landesregierungen sind nie wegen besonderer Aktivitäten zur Verringerung der Armut positiv aufgefallen“, beklagt Armutsforscher Butterwegge. Der aktuelle Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) thematisiere das Thema zwar öffentlich, „sozial ist aber nicht, wer Arbeit schafft, sozial ist vielmehr, wer Armut abschafft“, betont Butterwegge.

Laumann setze zu stark auf die schnelle Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt, kurzatmige Aktionsprogramme und die finanzielle Unterstützung der Lebensmitteltafeln, mit der man die Verpflichtung des Landes zur Sozialstaatlichkeit an Ehrenamtliche aus der Zivilgesellschaft abtritt.

Auch VdK-Landespräsident Vöge kritisiert die Schwarz-Grüne Landesregierung. Diese habe zwar ressortübergreifende Aktionsprogramme gegen Armut und die Stärkung sozialer Arbeit angekündigt, es lägen bisher aber keine konkreten Handlungskonzepte vor.

Stattdessen seien im Haushalt für 2025 Einsparungen im sozialen Bereich von 40 Millionen Euro vorgesehen. Vöge betont: Einsparungen im sozialen Bereich gingen „immer zulasten der Schwächsten in der Gesellschaft“.

Was sagt die Landesregierung?

Dem Sozialministerium zufolge ist das beste Mittel gegen Armut sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Diese sei in NRW derzeit mit 7,43 Millionen Menschen auf einem Höchststand. Dass es dennoch viele Armutsgefährdete gibt, erklärt auch das Ministerium mit der starken industriellen Prägung der Beschäftigung in NRW und dem dortigen Strukturwandel.

In NRW würden bundesweit die meisten Menschen mit Einwanderungsgeschichte leben, 2022 waren es etwa 5,5 Millionen. Dort sei aufgrund der geringeren schulischen und beruflichen Qualifikation die Erwerbstätigenquote geringer - und damit die Armutsgefährdungsquote höher.

NRW fördere ausbildungsinteressierte Schüler durch 133 Übergangslotsen und 106 Coaches. Hinzu kämen Hilfen für Obdach- und Wohnungslose sowie Unterstützung für Tafeln. Des Weiteren seien Kommunen mit rund 150 Millionen Euro dabei unterstützt worden, den Betrieb von Einrichtungen der sozialen Infrastruktur aufrechtzuerhalten.

Experten mit klaren Forderungen

Vöge reicht das nicht: Er fordert von der Bundesregierung eine sofortige Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro (derzeit 12,82 Euro). Zudem müssten Frauen besonders abgesichert werden, da sie häufiger von Armut betroffen sind, so der Landespräsident. Das Rentenniveau müsse von 48 auf 53 Prozent angehoben werden.

Außerdem brauche es eine „Rente für alle, also auch für Beamte, Politiker und Selbstständige, um Ungerechtigkeiten in der Altersrente abzumildern und die Anhebung des Rentenniveaus finanzieren zu können.“

Butterwegge fordert auf Landesebene eine Entschuldung der Kommunen, die Stärkung des öffentlichen Wohnungsbaus zur Eindämmung der Mietenexplosion sowie eine Schulstrukturreform hin zur Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild.

Auch müsse der Bildungssektor besser ausgestattet werden. Finanziert werden könne das auf Bundesebene durch eine Wiedererhebung der Vermögensteuer und eine Heranziehung von Firmenerben zur Erbschaftsteuer. (dpa)