Viele Monate warten Eltern behinderter Kinder derzeit auf eine Bewilligung von Kita-Assistenzen. Einige bringt das in finanzielle Nöte. Alle beklagen eine Verletzung des Rechts auf Teilhabe.
Inklusion in NRW in GefahrWarum Theos Eltern für einen Kita-Besuch ihres Sohnes so sehr kämpfen müssen
Irgendwann im August, Theo besucht gerade seit ein paar Tagen den Kindergarten, da hält er sein erstes Freundebuch in seinen Händen. Mutter Lisa Lehmann füllt für ihn zu Hause aus: Alter, Adresse, Lieblingsessen, was da halt so vorgegeben ist. Unter Berufswunsch notiert sie: Prince Charming. Lisa Lehmann, 34, lächelt noch heute breit, wenn sie an diesen Tag denkt. „Ein Freundebuch – das hatten wir noch nie. Ich war so glücklich über dieses Stück Normalität“, sagt sie.
Theo geht seit diesem Sommer in eine integrative Kindertagesstätte in Neuss, vor dreieinhalb Jahren kamen er und sein Zwillingsbruder Johann als extreme Frühchen in der Kölner Uniklinik zur Welt. Nicht einmal 23 Wochen wuchsen sie im schützenden Bauch. Die Brüder haben überlebt, starteten aber mit Behinderungen ins Leben. In den Kindergarten gehen sollten sie dennoch. Schließlich bescheinigt ihnen das Sozialgesetzbuch ein Recht auf Teilhabe.
Weil Theo nicht laufen, nicht krabbeln, nicht selbständig essen und auch nicht sprechen kann, benötigt er zur Verwirklichung dieses Rechts eine Kita-Assistenz. Also eine Begleitung, die ihn im Kita-Alltag an die Hand nimmt, ihn trägt, füttert, Spielzeug bringt, sich beim Mittagsschlaf neben sein Bettchen setzt, auf ihn achtet.
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Seit diesem Jahr hakt es mit der Bewilligung der Assistenz-Anträge
Zuständig für die Bewilligung der Hilfen ist der Landschaftsverband Rheinland (LVR). In der Vergangenheit ist den Anträgen, die jedes Jahr aufs neue gestellt werden müssen, laut Betroffenen meist reibungslos entsprochen worden. Seit diesem Jahr aber hakt es. Eltern reden im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ von einer Vielzahl an Unterlagen, die neu beigebracht werden müssten, von vielen Monaten dauernden Bewilligungszeiten, von massiven Stundenkürzungen, von komplett abgelehnten Anträgen. Einige plagen deshalb existenzielle Sorgen. Lisa Lehmann beispielsweise musste wegen der zu späten Bewilligung ihre Elternzeit verlängern. Eigentlich sollte sie schon seit Anfang Oktober wieder im Büro bei einem Aluminiumunternehmen sitzen. Statt wieder Geld zu verdienen, begleitet sie Theo nun im Kindergarten. „Finanziell ist das ganz schlecht. Wir nagen nicht am Hungertuch, aber ich bin nun schon mehr als drei Jahre zu Hause und das zweite Einkommen fehlt uns natürlich.“
Und dann ist da ja auch noch dieses unangenehme Gefühl, von dem in Sozialgesetzbüchern nicht die Rede ist: Etwas Übertriebenes zu fordern. Lästig zu sein. Vielleicht sogar gierig. Im LVR keinen Partner mehr zu haben, der sich für die Belange der behinderten Kinder einsetzt statt Kürzungen vorzunehmen. Sie solle doch mal überlegen, was ihr Sohn schon alles an Hilfen erhält, so soll es eine Sachbearbeiterin vom LVR im Gespräch mit ihr ausgedrückt haben, berichtet die Düsseldorferin Susanne Angel im Gespräch mit dieser Zeitung.
Zwei Drittel erhielten Stundenkürzungen, jeder Fünfte eine komplette Absage
Susanne Angel sitzt im Vorstand des Vereins „Gemischte Tüte“. Eltern von Kindern mit seltenen Erkrankungen oder Behinderungen haben sich hier vor etwa drei Jahren zusammengefunden, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu stärken. Der Verein kritisiert die veränderte Bewilligungspraxis des LVR in einem offenen Brief und sieht die soziale Teilhabe ihrer Kinder gefährdet. Eine Umfrage unter knapp hundert betroffenen Eltern in Düsseldorf habe ernüchternde Ergebnisse geliefert. Fast die Hälfte aller Antragstellenden hatte zu Beginn des Kita-Jahres noch keinen endgültigen Bescheid. Und das, obwohl die Anträge schon eine Weile – in manchen Fällen schon länger als ein halbes Jahr – beim LVR vorlagen. Auch diejenigen, die schon Post erhalten hatten, klagten in der Mehrzahl über das Ergebnis. Nur bei knapp jedem Vierten wurde der voll beantragte Umfang auch bewilligt. In fast zwei Drittel aller Fälle wurden Stunden gekürzt, knapp jeder Fünfte erhielt eine komplette Absage. „Unsere Kinder benötigen die Assistenz auch zukünftig und im gleichen Umfang wie bisher“, heißt es in dem Schreiben aus dem September. Eine Antwort des LVR lässt auf sich warten lassen. Auf Drängen habe man einen Gesprächstermin im Dezember erhalten.
Die Folgen der Kürzungen für die Familien sind oft gravierend. Zwar wird nach Auskunft des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) in allen Fällen von „drohender oder bestehender Behinderung und Teilhabeeinschränkungen“ neben einer zusätzlich erhöhten Pauschale „immer zunächst die sogenannte Basisleistung I gewährt“. Mit dieser könne der Kita-Träger entweder die Gruppenstärke absenken oder zusätzliche Fachkraftstunden in der Einrichtung implementieren. Ein Ersatz für eine Assistenz ist das nach Meinung der betroffenen Eltern nicht. „Für unseren Sohn ergibt das im besten Fall drei Stunden pro Woche“, sagt Angel.
Die Eltern einer schwerstmehrfach behinderten Tochter berichten in einer Umfrage der Gemischten Tüte, die dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt, ihr Kind könne ohne eigene Assistenz gar nicht in die Kita gehen. Die erfolgte Stundenkürzung bedeute deshalb, dass sie beispielsweise an „Vorschulaktivitäten im Nachmittagsbereich“ nicht mehr teilnehmen könne. Eine andere Familie erzählt, durch die Stundenkürzung könne der Vater nicht wie geplant seine Arbeit nach der Elternzeit wieder aufnehmen. „Fast drei Jahre Elternzeit mit nur einem Einkommen zu überbrücken war/ist schwierig zu überstehen. Gerade auch im Hinblick auf die gestiegenen Kosten. Es gefährdet unsere ganze Existenz.“
Die schleppende Bewilligungspraxis hat auch für die Kitas und die Menschen, die als Integrationshelfer arbeiten, schwerwiegende Folgen. „Unser Antrag für unseren Sohn sollte zunächst von 36 auf 25 Stunden gekürzt werden. Das bedeutet massive Gehaltseinbußen für unsere Kraft, davon kann die ja gar nicht leben. Wir hatten bislang Glück, weil unser Helfer sich darauf eingelassen hat, auf den Erfolg unseres Widerspruchs zu hoffen, aber viele andere sind abgesprungen. Und da sitzen die Kinder nun ohne ihre gewohnte Begleitung da“, sagt Angel im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Kein Memory, keine Musikgruppe, kein Lieblingsbuch
So geht es zum Beispiel Tammo, dem knapp drei Jahre alten Sohn von Lara Welder. Er liebt Memory und das Buch „Suppe ist fertig“, in dem Tiere zum Essen zusammenkommen. Tammo hat auch mit Begeisterung eine Musikgruppe besucht, er hat sehr gern gemalt. Weil Tammo blind mit einem geringen Restsehvermögen ist, ging das mit den Memory, dem Buch, dem Malen und der Musik nur mit Unterstützung seiner Integrationshelferin. Weil Tammo im neuen Bescheid der LVR statt bislang 25 nur noch 15 Stunden Hilfe in der Kita bewilligt wurden, habe der Wohlfahrtspfleger den Vertrag gekündigt. Lara Welder hat dafür sogar Verständnis. „Wer soll diese Arbeit für 15 Stunden in der Woche machen? Das ist ohnehin nicht gut bezahlt und bei so wenigen Stunden sehr unattraktiv.“ Tammo selbst darf bislang auch alleine weiter in gewohntem Umfang die Kita besuchen. „Die sind da sehr kulant, aber natürlich ist das auch eine Belastung, die haben ohnehin viel zu tun“, sagt Welder. Und auch für Tammo hat sich die Lage verschlechtert. Oft findet der kleine Junge nun sein Spielzeug nicht, in der vergangenen Woche kam er mit einer kaputten Brille nach Hause. „Eine angemessene Inklusion und Teilhabe kann so nicht mehr gewährleistet werden“, sagt Welder.
Grund für die Stundenkürzungen könnte nach Meinung der Eltern eine Finanzlücke beim LVR sein. Und in der Tat erklärt der Landschaftsverband auf Anfrage man rechne im Haushaltsjahr 2023/2024 für den Bereich der individuellen heilpädagogischen Leistungen mit einem Defizit „von rund 76 Millionen Euro“. Damit werde man deutlich mehr als doppelt so viel ausgeben als ursprünglich geplant.
Was den Vorwurf der langen Bearbeitungsdauer der Anträge angeht, räumt der LVR auf Anfrage zwar ein, dass es LVR-weit „aufgrund der gestiegenen Ansprüche an eine genauere Bedarfsermittlung, personeller Vakanzen und steigenden Antragszahlen“ zu „längeren Bearbeitungszeiten“ komme. Man sei bemüht, Gespräche nun schnell zu ermöglichen. Dass Bewilligungen teilweise erst deutlich nach dem Beginn des Kita-Jahres zugestellt wurden oder immer noch nicht angekommen sind, hält der LVR aber für unproblematisch. Ob individuelle heilpädagogische Leistungen erforderlich seien, werde schließlich „in der Regel erst im laufenden Kita-Alltag sichtbar“. Susanne Angel ärgern solche Aussagen, insgesamt zweifeln sie und andere Eltern an der Notwendigkeit einer jährlichen Überprüfung. Halten sie gar für Schikane. „Unsere Kinder leben mit einer Behinderung ein Leben lang. Dass sie eine Hilfe brauchen, ist lange vor dem Kita-Eintritt klar. Und die Behinderungen bleiben. Warum müssen wir das also jedes Jahr aufs Neue beweisen?“
Theos Bruder Johann besucht den Kindergarten schon seit eineinhalb Jahren mit einer Assistenz. Er hat eine Sehschwäche, spricht nicht, kann nicht eigenständig essen, es fällt ihm schwer, Gefahren einzuschätzen. Ende November laufe die Bewilligung aus, ein neuer Antrag für fünf statt drei Tage, den die Lehmanns schon im Mai gestellt hatten, ist noch nicht bewilligt. „Johann hat eine super Assistenzkraft, wir sorgen uns sehr, dass wir sie verlieren, wenn dem Antrag nicht rechtzeitig stattgegeben wird“, sagt Lehmann.
Aufgeben werden sie und die anderen Eltern aber sicher nicht. Zu viel steht auf dem Spiel. Dass sich ihr Kampf lohnt, sieht Lehmann jeden Tag. Zum Beispiel, wenn Johann gut gelaunt das Klettergerüst erklimmt und auf der anderen Seite hinabrutscht. „Das wäre früher undenkbar gewesen. Er ist durch die Kita selbständiger geworden. Er guckt sich unglaublich viel von den anderen Kindern ab.“