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Leverkusener mobbte, schlug und stahl„Wenn die Langeweile kam, schlichen sich dumme Gedanken ein“

Lesezeit 10 Minuten
Ein 14-jähriger Jugendlicher sprüht mit roter Farbe aus der Spraydose das Wort "Gewalt" an eine schon beschmierte Wand in Lichtenfels.

Die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen ist gestiegen.

Als Kind war Amaru polizeibekannt, aber er hat es zurück in die Spur geschafft. Heute wünscht sich der 23-Jährige mehr Hilfsangebote.

Das Erinnern fällt Amaru schwer. Er hat gemobbt, geschlagen und gestohlen. Es zu tun, war damals einfacher als es jetzt auszusprechen. „Da bin ich nicht stolz drauf“, sagt der 23-Jährige. Mobben. Schlagen. Stehlen. Das sind unangenehme Worte. Heute ist Amaru ein anderer. Er blickt mehr als zehn Jahre zurück.

Der junge Mann aus Leverkusen trägt Jeans, T-Shirt und eine Brille, er hat dunkle Haare und einen dunklen Bart. Er redet leise. Amaru ist nicht sein richtiger Name, den möchte er nicht öffentlich nennen. Aber seine Geschichte, die möchte Amaru erzählen. Um anderen Mut zu machen. Und um zu zeigen, dass gewaltbereite Kinder und Jugendliche, über die aktuell so viel geredet und geschrieben wird, nicht unverbesserlich sind. Dass es sich lohnt, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken.

Statistiken sind ein Indiz für eine ungute Entwicklung

Die Zahlen tatverdächtiger Kinder (bis unter 14 Jahre, plus zwölf Prozent), Jugendlicher (14 bis unter 18 Jahre, plus 9,5 Prozent) und Heranwachsender (18 bis unter 21 Jahre, plus 6,5 Prozent) sind in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik 2023 wie schon im Jahr zuvor gestiegen. In NRW wurden nach Angaben der Landesregierung in 22.496 Fällen tatverdächtige Kinder (plus 7,4 Prozent) und in rund 48.000 Fällen tatverdächtige Jugendliche (plus 6,1 Prozent) ermittelt. Im Bereich Gewaltkriminalität wurden im vergangenen Jahr knapp 3.300 tatverdächtige Kinder (plus 15,3 Prozent) und rund 8.200 tatverdächtige Jugendliche (plus 9,2 Prozent) in den Statistiken erfasst. Wichtig beim Blick auf diese Zahlen ist: Es handelt sich um Tatverdächtige, nicht um Personen, die erwiesenermaßen straffällig geworden sind. Trotzdem sind diese Statistiken ein Indiz für eine ungute Entwicklung.

„Für Alarmismus sehe ich aber keinen Grund“, sagt Frank Neubacher. Er ist Professor am Institut für Kriminologie der Uni Köln und erklärt: „Wir haben jetzt seit zwei Jahren, mitbedingt durch Corona, ansteigende Zahlen, nachdem wir – auf einen langen Zeitraum betrachtet – eine rückläufige Entwicklung hatten. Ob das eine langfristige Trendwende einläutet, kann heute keiner sagen.“ Insgesamt sei im Zuge des Zivilisationsprozesses der Menschheit Gewalt im öffentlichen Raum vom Mittelalter über die frühe Neuzeit bis heute massiv zurückgedrängt worden. „Das ist eine Erfolgsgeschichte“, betont Neubacher.

Erst seit dem Jahr 1998 ist das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft

Zu den Erfolgen zählten zwei Regelungen, die noch gar nicht so lange bestehen: seit 1997 ist die Vergewaltigung in der Ehe strafbar, und 1998 wurde das elterliche Züchtigungsrecht abgeschafft, mit einer klarstellenden Änderung im Jahr 2000. Wenn Kinder und Jugendliche Gewalt in der eigenen Familie erleben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie dies als normal ansehen und selbst irgendwann Gewalt ausüben. „Der Verzicht auf eine gewaltsame Erziehung ist ein ganz wichtiger Schritt, er vermag den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen“, sagt Neubacher.

NRW-Innenminister Herbert Reul kommentiert die steigenden Zahlen so: „Unser Nachwuchs hat unter Corona erheblich gelitten. Auch die sozialen Medien tragen dazu bei, dass unsere Kinder schon früh ungefiltert Gewalt sehen. Wir müssen den Begriff „Medienkompetenz“ ernster nehmen. Und Eltern müssen sich mehr einmischen.“ Aber auch: „Den Kampf gegen Kinder- und Jugendkriminalität müssen wir als gesamte Gesellschaft aufnehmen.“

Herbert Reul (CDU), NRW-Innenminister,  äußert sich im Landtag zu einer Razzia gegen eine Hamas-Unterstützergruppe in Duisburg.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagt: „Unser Nachwuchs hat unter Corona erheblich gelitten. Auch die sozialen Medien tragen dazu bei, dass unsere Kinder schon früh ungefiltert Gewalt sehen.“

Dramatische Fälle haben die Diskussionen zuletzt angeheizt: im vergangenen Jahr wurde in Freudenberg eine Zwölfjährige von zwei gleichaltrigen Mädchen erstochen. Im Februar verletzte in Wuppertal ein 17-Jähriger mehrere Mitschüler mit einem Messer. In Oberhausen töteten vier Jugendliche zwei ukrainische Nachwuchs-Basketballer mit Messerstichen. Und im April erstach ein 13-Jähriger in Dortmund einen Obdachlosen.

Jörg-Konrad Unkrig ist seit mehr als 40 Jahren Polizist. Früher habe er einen völlig anderen Blick auf kriminelle Kinder und Jugendliche gehabt, erzählt Unkrig. Die machen der Polizei viel Ärger und Arbeit und ändern könne man daran so gut wie nichts, habe er gedacht. Vielfach sei bei Kindern einfach abgewartet worden, bis sie strafmündig waren, um dann endlich mal durchgreifen zu können. „Aber wir müssen da viel früher ran, wenn wir kriminelle Karrieren verhindern wollen“, sagt Unkrig heute: „Wegsperren bringt in den allermeisten Fällen gar nichts.“ Den jungen Menschen nicht. Und unserer Gesellschaft nicht.

Strukturen und Strategien zur Konfliktbewältigung lernen

Inzwischen leitet Unkrig, mittlerweile Referatsleiter im nordrheinwestfälischen Innenministerium und dort zuständig für Kriminalprävention und Opferschutz, das 2010 ins Leben gerufene und vom NRW-Innenministerium geförderte Projekt „Kurve kriegen“. Mehrfachtatverdächtigen Kindern und jungen Jugendlichen in besonderen sozialen Problemlagen wird hier ein Weg aus der Kriminalität geebnet. Dafür arbeitet die Polizei mit anerkannten Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Deren Mitarbeiter, so genannte „pädagogische Fachkräfte“, kümmern sich um die jungen Menschen, zeigen ihnen alternative Konfliktbewältigungsstrategien auf, bringen Struktur in ihren Alltag, entdecken gemeinsam mit ihnen mögliche neue Hobbies.

Amaru hat mit „Kurve kriegen“ den Ausstieg aus dem kriminellen Milieu geschafft. Eines Tages habe die Polizei in der Wohnung gestanden, erzählt er. Amaru war damals 13 Jahre alt. Er hat drei jüngere Geschwister, seine Mutter ist alleinerziehend und musste viel arbeiten. „Da ist man halt draußen im Viertel unterwegs“, erzählt Amaru: „Da hatte ich einen Freundeskreis um mich, mit dem sind wir in eine nicht so gute Schiene geraten.“

Wir haben auch gespielt, wir haben nicht nur Straftaten gemacht
Amaru

Mobben. Schlagen. Stehlen.

„Wir haben auch gespielt, wir haben nicht nur Straftaten gemacht“, betont Amaru. Aber wenn die Langeweile kam, schlichen sich dumme Gedanken ein. „Und dann sind alle mitgezogen.“

Die Professoren Philipp Walkenhorst und Christoph Käppler befassen sich schon ein Berufsleben lang mit dem Thema Jugendkriminalität. Beide sind im Landespräventionsrat NRW engagiert, Walkenhorst (71) als Vorsitzender und Käppler (61) im Wissenschaftlichen Beirat. Walkenhorst ist Sozialwissenschaftler und Sonderpädagoge, er hatte zuletzt den Lehrstuhl „Erziehungshilfe und Soziale Arbeit“ am Department Heilpädagogik und Rehabilitation der Uni Köln inne. Käppler leitet als Psychologe und Psychotherapeut das Fachgebiet „Soziale und Emotionale Entwicklung“ an der TU Dortmund.

Die Idee: Eine Jugendhafteinrichtung zur Lehranstalt ausbauen

Ihr wichtigstes Anliegen: Brücken bauen. Ihnen schwebt die Idee vor, eine Jugendhafteinrichtung in NRW zu einer akademischen Lehranstalt zu machen, wie eine Uniklinik. „Da gibt es unglaublich viel Wissen über entgleiste Karrieren“, sagt Walkenhorst. Das Knowhow dieser „Erfahrungsexperten“ müsse dringend mit jenem von Schulpädagogik, Jugendhilfe, Jugendstrafrechtseinrichtungen und Kinder- und Jugendpsychiatrie vernetzt und in pädagogische Praxis umgesetzt werden. „Wir sollten mit den jungen Menschen gemeinsam Konzepte entwickeln, wie man aus diesem Sumpf wieder herauskommen kann“, sagt Walkenhorst. Oder gar nicht erst hineingerät.

„Wir müssen vermeiden, weiter Fronten aufzumachen und einer Dämonisierung entgegenwirken“, erklärt Käppler. Walkenhorst ergänzt: „Wenn wir den jungen Menschen in unserem Land permanent unterstellen, dass sie dissozial sind, dass sie gewaltbereit sind, dass sie gefährlich sind, dann bekommen wir unter Umständen die Quittung für diese Botschaft.“

Aufsehenerregende Tötungsdelikte oder Amoktaten von Kindern und Jugendlichen seien dramatisch, „wir müssen jedem einzelnen Fall nachgehen und nach den Hintergründen fragen“, betont Käppler. Die Regel seien solche Taten aber glücklicherweise nicht. Bislang funktioniere die Gewaltprävention in Deutschland gut, besser als in manch anderem Land. Die aktuellen Zahlen bereiten den Experten dennoch Sorgen. „Wir dürfen nicht schlechter werden“, sagt Käppler. Prävention müsse der heutigen Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen angepasst werden. Denn die hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidend verändert, vor allem durch das Internet. Und zwei Jahre Corona-Pandemie mit eingeschränkten Sozialkontakten und noch mehr Medienzeiten waren hier auch nicht hilfreich.

Aggression ist ein natürliches Phänomen, das zu den Basis-Emotionen gehört, das kann man nicht wegtrainieren oder -therapieren, das ist Quatsch
Christoph Käppler

Zunächst mal: „Aggression ist ein natürliches Phänomen, das zu den Basis-Emotionen gehört, das kann man nicht wegtrainieren oder -therapieren, das ist Quatsch“, erklärt Käppler. Aggression setzt Energie frei und ist damit seit Anbeginn der Menschheit entscheidend für die Sicherung von Grundbedürfnissen und den Erhalt unserer Art. Kinder und Jugendliche müssen aber soziale und emotionale Kompetenzen im Umgang mit ihren Aggressionen beigebracht bekommen. „Das ist zentral für den Lebenserfolg in allen Bereichen“, erklärt der Psychologe.

Philipp Walkenhorst gerät angesichts der Wortschöpfung „Jugendgewalt“ in Rage. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht jeden Faustschlag und jede Hauerei als Jugendgewalt etikettieren“, sagt er. Das ist das Eine. Das Andere: „Sie finden nirgends den Begriff Erwachsenengewalt. Aber die Gewalt in dieser Welt kommt von den Erwachsenen.“ Kriege würden auf Grund von Machtinteressen Erwachsener geführt. „Und wer hat sich Plattformen wie Tiktok ausgedacht? Das sind gewinnorientierte Konzerne, die von Erwachsenen geleitet werden.“

Besondere Sorge bereitet den Experten die digitale Welt

Und damit sind die Experten bei einem Themenbereich, der ihnen besondere Sorgen bereitet: die digitale Welt. Problematisch seien gewaltverherrlichende Filme auf Tiktok genauso wie entsprechende Computerspiele. „Wir wissen, dass der häufige und unbegleitete Konsum von so etwas dazu führt, dass Hemmschwellen reduziert werden“, sagt Walkenhorst. Schließlich war es die amerikanische Armee, die Ego-Shooter-Spiele zunächst zu Trainingszwecken entwickelte, ihre Rekruten sollten für den Krieg und das Töten trainieren.

Der Mensch ist genetisch bedingt mit viel Empathie ausgestattet. „Durch die Spiegelneurone bilden wir unwillkürlich die Emotionen anderer in uns ab“, erklärt Käppler: „Wenn ich anderen Gewalt antue, wenn ich sie quäle, muss ich etwas in mir abstellen.“ Oder meine Emotionen müssen durch Gewöhnung abgestumpft sein. Die Trainings-Computerspiele für angehende Soldaten taten ihren Dienst. Und offenbarten ein ungeahntes kommerzielles Potenzial. So wurden sie auch für die breite Öffentlichkeit zugänglich, für unsere Kinder. „Das ist eine substanzielle Verantwortung der Erwachsenenwelt, das kann man nicht den jungen Leuten in die Schuhe schieben“, betont Walkenhorst.

Vor zehn Jahren, als Amaru er ein polizeibekanntes Kind war, hing er in seinem Viertel ab. „Aber heute hängen die meisten Jugendlichen im Internet rum. Das meiste passiert heute online“, sagt der 23-Jährige. Hilfe sollte deshalb unbedingt dort ansetzen. „Es braucht mehr Online-Hilfsangebote“, sagt Amaru: „Und mehr Jugendhäuser.“ Bei ihm sei der Wendepunkt gewesen, als er die Kreativwerkstatt „Outline“ in Chorweiler kennenlernte. Sein Betreuer von „Kurve kriegen“ brachte ihn darauf, weil Amaru schon damals gern zeichnete. Bei „Outline“ lernte er, Graffitis zu malen. Aber vor allem: „Man hatte einen Ort, an dem man erwünscht war und seiner Kreativität freien Lauf lassen konnte.“

Amaru macht Musik, zeichnet, will eine IT-Ausbildung machen

Amaru ist ein Musterbeispiel dafür, was Sozialarbeit leisten, welche Wirkung Sich-Kümmern haben kann. Er macht aktuell seinen Realschulabschluss und will anschließend eine Ausbildung im IT-Bereich absolvieren. Er zeichnet noch immer gern, macht Musik, fungiert als Botschafter für „Kurve kriegen“.

„Aber nicht jeder kann unser Angebot so annehmen wie Amaru“, sagt Heiko Wegner, Mitarbeiter der AWO Köln und einer der pädagogischen Fachkräfte bei „Kurve kriegen“: „Vor allem, wenn noch andere Themen dazukommen, wie häusliche Gewalt zum Beispiel, wird es schwieriger.“ Auch Amarus Mutter war damals kooperativ und offen für eine Elternberatung. „Sie hat dann mehr über Sachen geredet, was ich draußen mache, sie ist ein bisschen offener geworden“, erinnert sich Amaru. „Viele Eltern denken: reparier mal mein Kind“, sagt Wegner. Dabei seien die Eltern oft der Schlüssel zum Erfolg: „In die Lebenswelt der Kinder einzutauchen, ist essenziell wichtig. Manchmal ist das im Alltag schwierig, aber wenn man sich bewusst Zeit dafür schafft, ist das total wertvoll.“

Philipp Walkenhorst und Christoph Käppler kennen Amaru nicht. Aber sie würden ihn mögen. Er hat Hilfe angenommen und das Beste daraus gemacht. „Wir müssen den jungen Menschen Perspektiven geben“, sagt Käppler: „Sie müssen durch Erziehung und Ausbildung die Erfahrung machen: ich kann das, was ich mir im Leben wünsche, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch erreichen. Das geht unserer jungen Generation ein Stück weit verloren.“ Die Chancen heute seien besser denn je, wirft Walkenhorst ein. „Aber nur in Verbindung mit einem bestimmten Bildungserfolg“, sagt Käppler.

Amarus Rettung war ein Jugendklub. Gemeinsam zeichnen. Gemeinsam Musik machen. Angeleitet von Erwachsenen guten Willens, die Anerkennung, Aufmerksamkeit und eine stabile Beziehung boten. Das klingt so einfach. Und ist doch oft so schwer in unserer Welt, in der Jugendliche nicht selten mehr Zeit in virtuellen Untiefen verbringen als mit ihren Eltern. In der die Interaktion mit 1039 Freunden in sozialen Netzwerken bombastisch klingt, aber nicht das reale Erleben und Lösen von Konflikten mit den neun Freundinnen und Freunden in der Basketballmannschaft ersetzen kann. Im Gegenteil: „Emotionale Gewalt aus der Deckung heraus, anonym im Netz platziert, ist für den Selbstwert Betroffener viel schlimmer, als wenn sie sich mal kloppen“, sagt der Psychologe Käppler.

Aus Gesprächen mit jungen Inhaftierten weiß er: „Die wünschen sich alle ein ganz bürgerliches Leben. Die wollen einen Partner oder eine Partnerin, Kinder, ein Familienheim, so, wie wir unser Leben auch konzipiert haben.“ Und warum geraten sie auf die kriminelle, möglicherweise gewalttätige Bahn? „Weil sie keine Chance gesehen haben, ihre Wünsche irgendwie zu realisieren.“

Wenn Aggressionen eskalieren, ist das tragisch für die Familie des Opfers. „Wie will man da Trost spenden? Da gibt es nichts zu beschönigen“, sagt Walkenhorst. Aber: „Auch die Täterinnen haben noch 70 Jahre Leben vor sich.“