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Intensivpädagoge über Jugendgewalt„Familiäre Gewalt ist der größte Risikofaktor dafür“

Lesezeit 7 Minuten
Zwei Schüler prügeln sich auf dem Schulhof. (Symbolbild)

Im Interview erklärt der Intensivpädagoge Menno Baumann, ob Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen zugenommen hat. (Symbolbild)

Wenn ein Kind tötet, liege das oft am Zusammentreffen unglücklicher Umstände, so der Intensivpädagoge Menno Baumann.

In Offenburg hat vor Kurzem ein 15-Jähriger einen anderen Schüler erschossen. Nur wenige Monate zuvor hatten in Wunsiedel, Freudenberg und in Wunstorf bei Hannover junge Menschen andere Minderjährige umgebracht. Im Interview erklärt der Intensivpädagoge Menno Baumann, ob Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen zugenommen hat und wie es dazu kommen kann, dass Kinder töten.

Was hat sich bei der Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren verändert, welche Entwicklungen gibt es?

Was heute anders ist, ist, dass die Zahlen deutlich niedriger sind als noch vor 20 Jahren, obwohl zuletzt immer wieder das Gegenteil durch die Medien behauptet wurde. Es ist ein Mythos, dass es einen Anstieg bei der Jugendgewalt geben würde. Dass die Zahlen nach dem Ende der Corona-Maßnahmen wieder ansteigen, war erwartbar.

Was bedeutet das? Bricht sich der in der Corona-Zeit aufgestaute Frust jetzt Bahn?

Es gibt zwei wichtige Faktoren, die eine Rolle spielen dürften. Familiäre Gewalt ist und bleibt der größte Risikofaktor dafür, dass Jugendliche selbst gewalttätig werden. Immer wenn es eine Verschärfung der familiären Gewalt gibt – und das war während der Corona-Pandemie der Fall – zieht die Gewalt bei Jugendlichen auf der Straße nach.

Außerdem gibt es ein typisches Alter, in das alterstypische Delikte hineingehören. Durch die Corona-Beschränkungen gab es zunächst weniger Treffen und Veranstaltungen und ein Teil der alterstypischen Gewalttaten blieb aus. Nun gibt es quasi mehrere Jahrgänge gleichzeitig, die noch in dieser Phase sind, in der es statistisch gesehen öfter zu Gewalttaten kommt.

Inensivpädagoge: „Dass Kinder andere Kinder töten, ist extrem selten“

Ereignisse wie die in Freudenberg oder Wunsiedel, bei denen Elf-, Zwölfjährige oder 13-Jährige töteten, haben die Öffentlichkeit schockiert. Ist das nicht doch eine neue Dimension? Und werden überhaupt alle Fälle bekannt, in denen Kinder töten?

Dass Kinder andere Kinder töten, ist extrem selten, aber das hat es schon immer gegeben. Es gab 1990 diesen Fall in England, wo zwei Zehnjährige ein Kleinkind getötet haben. Und es gab in der Vergangenheit auch schon Amokläufe an deutschen Schulen mit teils minderjährigen Tätern. Wir haben in den letzten Jahren nichts gesehen, was es seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland nicht immer auch schon gab.

Dabei werden nicht alle Fälle in der Öffentlichkeit bekannt. Im Jahr 2022 gab es zum Beispiel 19 Straftaten gegen das Leben, bei denen unter 14-Jährige tatverdächtig waren. Längst nicht alle dieser Delikte füllten die Titelseiten. Medien reagieren hoch selektiv.

Warum töten Kinder?

Kinder sind in der Regel zugewandter und kooperativer als Erwachsene und haben eine große Hemmschwelle, jemandem zu schaden. Wenn ein Kind tötet, liegt das oft am Zusammentreffen unglücklicher Umstände und daran, dass sie die Konsequenzen ihres Handelns noch nicht absehen können. Wenn zum Beispiel ein Zehnjähriger stark geärgert oder gehänselt wird, kann es beispielsweise passieren, dass er ein anderes Kind vor den Bus schubst. Denn er ist in dieser Situation nicht zwingend in der Lage zu sehen, welche Folge das haben kann. Das ist eine Reifefrage.

Was ist mit etwas älteren Kindern und Jugendlichen, die extrem gewalttätig sind, woher kommt das?

Damit Kinder oder Jugendliche Hemmungen verlieren und zu echten Gewalttätern werden, muss schon sehr viel passieren. Dann steckt in der Regel eine massive psychosoziale Problemlage dahinter. Wichtige Risikofaktoren sind das eigene Erleben von Gewalt, mangelnde Integration im sozialen Umfeld und in der Schule sowie Ausgrenzungserfahrungen.

Hinter Jugendgewalt stecken oft psychosoziale Probleme

Wenn Jugendliche – vor allem die jungen Männer – dann in das Alter der Identitätsfindung kommen, können sie zu Tätern werden. Dabei bleibt die Gewalt meist auf die eigene Gruppe beschränkt. Es ist sehr selten, dass Jugendliche von sich aus gegenüber Erwachsenen gewalttätig werden.

Dazu kommen oft die Sensationslust, das „Sensation Seeking“ und die Gruppendynamik: Ich tue in der Gruppe Dinge, die ich sonst nicht tun würde. Bei der Stuttgarter Krawallnacht waren von 500 an den Ausschreitungen Beteiligten 495 für sich genommen vermutlich vollkommen unproblematisch. Die meisten waren vorher völlig unauffällig, haben dann aber als Gruppe gewalttätig agiert. So etwas kann spontan entstehen, aber sich auch über die sozialen Netzwerke anbahnen, wo sich manche gezielt zu Krawallen verabreden.

Nach Ereignissen wie der Stuttgarter Krawallnacht oder den Randalen in der Silvesternacht in Berlin kocht immer wieder schnell die Integrationsdebatte hoch. Welche Rolle spielt der Migrationshintergrund bei jugendlichen Gewalttätern?

Ein Migrationshintergrund an sich ist kein Faktor, der Gewalttätigkeit begünstigt. Aber der typische Gewalttäter ist männlich und unter 30. Wenn Sie Taten von Migranten mit denen der hier geborenen Deutschen vergleichen, ist zu berücksichtigen, dass diese Deutschen im Durchschnitt 46 Jahre alt sind.

Migranten erleben oft massive Gewalt auf ihrer Flucht

Hingegen sind 73 Prozent derjenigen, die Deutschland als Geflüchtete erreichen, junge Männer. Das ist übrigens eine Folge der EU-Grenzpolitik, weil die verbleibenden Fluchtrouten für Frauen zu gefährlich sind.

Insofern steht aus Sicht der Gewaltforschung nicht die Gruppe der Migranten der deutschen Gesamtbevölkerung gegenüber, sondern Alter und Geschlecht müssen berücksichtigt werden. Und bei dem Anteil dieser Männer, der auf der Flucht massive Gewalt erlebt hat, ist es ehrlich gesagt erstaunlich, dass nicht mehr traumafolgetypische Probleme wie zum Beispiel Gewalt sichtbar werden.

Es heißt auch, dass Gewalt in Migrantenfamilien häufiger vorkommt, das ist doch ein Risikofaktor, selbst gewalttätig zu werden?

Wir dürfen nicht vergessen: Das friedliche Zusammenleben von Männern, Frauen und Kindern ist kulturhistorisch betrachtet eine relativ junge Errungenschaft unserer Gesellschaft. Für lange Zeit wurden Frauen und Kinder geschlagen. Auch in Deutschland gibt es erst seit 2000 das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 eine Straftat.

Diese Standards haben sich in Mitteleuropa schneller durchgesetzt als in einigen anderen Regionen der Welt. Generell gilt, je krisengeschüttelter eine Region ist, desto mehr Gewalt gibt es auch weiterhin in den Familien. Und das ist nicht etwa nur speziell in muslimischen Gesellschaften so, wie es so oft heißt: Schauen Sie einmal in die Slums von Südamerika, dort sehen wir ganz andere Zahlen von Kindern, die Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch werden.

Herr Baumann, Sie sind ein erklärter Gegner von höheren Strafen und davon, das Alter für die Strafmündigkeit herabzusetzen. Und Sie sagen, dass auch Sozialstunden nichts bringen. Wie ist denn stattdessen mit jugendlichen Gewalttätigen umzugehen, um zu verhindern, dass sie ihre Laufbahn als Erwachsene fortsetzen?

Das Alter für die Strafmündigkeit herabzusetzen wirkt sich negativ aus. Alle Länder, die das gemacht haben, hatten danach nur größere Probleme. Eine höhere Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, ist die effektivste juristische Intervention, härtere Strafen sind dagegen nicht effektiv.

Gewalttätige Jugendliche brauchen psychosoziale Integration, Maßnahmen zur Tagesstrukturierung und Bildung

Sozialstunden können sehr wohl etwas nützen, wenn sie in ein Gesamtkonzept eingebettet sind, das aus mehreren Bausteinen besteht. Was am besten hilft, sind psychosoziale Integration, Maßnahmen zur Tagesstrukturierung und Bildung. Um dies durchzusetzen, kann juristischer Druck eine Randbedingung sein, die hilft, aber nichts löst.

Sie sagten, das Herabsetzen der Strafmündigkeit würde sich negativ auswirken, inwiefern?

Es heißt in öffentlichen Debatten immer schnell „Kindern passiert ja nichts“. Das ist aber falsch. Auch Kinder, die eine Straftat begehen, kommen vor den Richter, nur eben vor den Familienrichter, und da gehört ein Kind auch hin. Dort kann ein abgestimmtes Programm aus Jugendhilfe und sorgerechtlichen Interventionen – wenn die Eltern auf die Gewaltbereitschaft des Kindes nicht einwirken können – entschieden werden. Wenn notwendig, auch bis hin zu schützenden Maßnahmen, gegebenenfalls auch unter geschlossenen Rahmenbedingungen.

Wir haben in Deutschland unter anderem deshalb so wenig Gewalt, weil wir mehr in Sozialarbeit investieren und weniger in vermeintlich harte Strafen. In den USA etwa sitzen zehnmal so viele jugendliche Gewalttäter wie bei uns im Gefängnis, und es gibt deutlich mehr Gewalt und Kriminalität in diesen Altersgruppen.