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„Es ist gefährlich für Patienten“Kölner Kollegin warnte vor mordverdächtigem Pfleger

Lesezeit 6 Minuten
Der angeklagte Krankenpfleger hält sich zwischen seinen Anwälten Volker Breyer (r) und Tanja Tomasso (l) einen Aktenordner vor das Gesicht. Ulrich S. steht wegen Mordes an neun Patienten vor dem Aachener Landgericht.

Der angeklagte Krankenpfleger vor dem Aachener Landgericht

In Aachen wird Ulrich S. der Prozess gemacht, ihm werden neun Morde vorgeworfen. Auch in Köln-Merheim war der Pfleger beschäftigt.

„Ich bin halt ein Gutmensch“, habe der Angeklagte nach seiner Verhaftung am 26. Juni 2024 gesagt: „Und eigentlich hätte ich für meine Arbeit das Bundesverdienstkreuz verdient.“ Es scheint wie eine Mischung aus Selbstmitleid und Größenwahn, von der der Polizeibeamte vor dem Landgericht Aachen berichtet. Als Zeuge sitzt er am Freitagmittag mitten im holzvertäfelten Schwurgerichtssaal auf einem Stuhl. Und berichtet von dem Wortschwall, mit dem der festgenommene Krankenpfleger Ulrich S. die Beamten in seiner ersten Vernehmung überzog.

Er sei ein „Bauernopfer“, habe der 44-Jährige behauptet. Seine ehemaligen Kollegen, Ärzte oder Pflegepersonal, wollten eigene Fehler doch jetzt nur bei ihm abladen. Und man könne sich nicht vorstellen, wie belastend seine Arbeit auf der Palliativstation des Würselener Rhein-Maas-Klinikums (RMK) gewesen sei, von der er Schlafstörungen und psychische Probleme bekommen habe.

Dem Angeklagten werden neun Morde und 34 Mordversuche vorgeworfen

Je länger der Mordermittler spricht, desto unruhiger wird der Mann, der sich für ein Opfer und einen guten Menschen hält. Ulrich S., grünes Longshirt, die tätowierten Hände sorgsam auf dem Tisch gefaltet, schaut skeptisch, rutscht hin und her auf der Anklagebank. Am Morgen, als das Gericht einen Sachverständigen über den Alltag auf einer Palliativabteilung befragt hatte, sah das noch anders aus. Der Angeklagte, dem neun Morde und 34 Mordversuche vorgeworfen werden, folgte den Ausführungen ruhig und gelassen. Fast wie ein interessierter Zuschauer, der zufällig in den Saal gekommen ist.

Laut Staatsanwaltschaft hat er den Patienten im Spätdienst vor allem das Beruhigungsmittel Midazolam oder auch Morphium verabreicht. Eigenmächtig, ohne ärztliche Anordnung, damit er eine ruhige Schicht hat. Die verabreichten Mittel machen je nach Dosierung müde oder „nicht erweckbar“, können zum Koma führen, im schlimmsten Fall die Atmung stoppen. S. soll die Taten zwischen Ende Dezember 2023 und Anfang Mai 2024 begangen haben.

Schon in Kölner Kliniken soll der „Mord-Pfleger“ aufgefallen sein

Während der Angeklagte immer unruhiger wird, sitzt die Pflegeassistentin Petra Daniels (Name geändert) etwa 82 Kilometer entfernt im Kölner Stadtteil Sürth in ihrem Wohnzimmer. Als Auszubildende im zweiten Jahr war sie im Juni 2019 im Klinikum Merheim mit Ulrich S. im Spätdienst der Palliativstation. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat S. 2010 sowie von 2014 bis 2020 in den Kliniken der Stadt Köln gearbeitet.

Bevor er sich zum Krankenpfleger ausbilden ließ, war er im mittleren Dienst unter anderem beim Zollkriminalamt Köln beschäftigt. Im Krankenhaus jedenfalls sei er „deutlich am falschen Platz“ gewesen, sagt Petra Daniels. Ein „regelrechter Rüpel, der Kerl, absolut empathie- und respektlos.“ Er habe „manchen Patienten den Tod gewünscht, weil die zum Beispiel vor Schmerzen häufig geschrien, geklingelt oder sonst wie um Hilfe gebeten“ hätten: „Das hat den regelrecht genervt und wütend gemacht.“

Auszubildende schrieb Warnbrief an die Pflegedienstleiterin

So dürfe man nicht mit Menschen umgehen, habe sie damals gedacht, erzählt die heute 27-Jährige: „Vor allem nicht mit kranken, womöglich sogar todkranken Menschen.“ Deshalb hat sie am 11. Juni 2019 allen Mut zusammengenommen und einen anonymen „Warnbrief“ an die Pflegedienstleitung geschrieben. Anonym? „Weil ich damals doch noch in der Ausbildung war und in der Klinik Merheim nur ein Praktikum gemacht habe.“

Von ihrem damaligen Brief hat Petra Daniels vor einigen Tagen als Zeugin vor dem Landgericht Aachen berichtet. Dass es ihrer Meinung nach gefährlich für viele Patienten gewesen sei, wenn Ulrich S. Dienst hatte. Dass er Schlafmittel gegeben habe an Patienten, damit er seine Ruhe habe. „Auch an Patienten, bei denen das ausdrücklich untersagt war“, ergänzt die junge Frau.

Beschuldigter Pfleger hatte freien Zugang zum Medikamentenschrank

Vor Gericht berichtete sie auch über eine Erinnerung zum Medikamentenschrank im Schwesternzimmer. Sie habe gesehen, wie S. „den Schrank geöffnet und sich reichlich Medikamente in die Hosentasche gestopft hat“. Als der wiederum bemerkt habe, dass er beobachtet wurde, habe er sich ruhig umgedreht und zu der damaligen Pflegeschülerin gesagt: „Wenn du was brauchst, kannst du es dir hier ruhig nehmen. Interessiert sowieso niemanden, aber lass dich nicht erwischen.“

Außer Petra Daniels haben noch drei weitere Mitarbeiterinnen aus Merheim vor Gericht ausgesagt. Eine Zeugin zitierte den Angeklagten: „Dann gibt man denen etwas zum Abschießen, dann klingeln die nicht so oft.“ Für die Medikamentenbestellungen, das wird in weiteren Befragungen deutlich, war damals in Köln vornehmlich der Angeklagte zuständig, weil er häufig im Nachtdienst gearbeitet hat. „Es wurde viel bestellt“, zitiert die „Aachener Zeitung“ (AZ) eine andere Zeugin. „Es war immer viel da.“

Positives Abschlusszeugnis trotz Kündigung

Nach dem Eingang des Beschwerdebriefs, erklärte demnach die damalige Stationsleiterin dem Gericht, habe sie Ulrich S. zur Rede gestellt: „Er sagte, er habe Patienten etwas gegeben, weil er Angst hatte, mit der Arbeit nicht fertig zu werden.“ Es sei dann zu einem Gespräch mit der Pflegedienstleitung gekommen, in dem der Beschuldigte zugegeben habe, „aus pragmatischen Gründen“ ohne ärztliche Anordnung Medikamente verabreicht zu haben. Er solle das vollständig unterlassen, sei ihm gesagt worden.

Vor dem Landgericht in Aachen wurde zudem aus dem internen E-Mailverkehr der Klinik Merheim vorgetragen. Der Arbeitsmediziner der Klinik habe damals „von weiteren Einsätzen des Herrn S.“ abgeraten. Und aus der Personalabteilung hieß es: „Wir werden seine Berufseignung in Zweifel ziehen müssen.“ Am 10. Juni 2020 schließlich unterzeichnete S. einen Aufhebungsvertrag. Im Abschlusszeugnis attestierte die Klinik dem Pfleger trotzdem „große Einsatzfreude“ und „schnelle Auffassungsgabe“, berichtet die AZ. Er sei „in hohem Maße zuverlässig“, hieß es weiter.

Klinik Merheim hat interne Prüfung eingeleitet

Eine derart positive Bewertung für einen Mann, dessen Berufseignung „in Zweifel“ gezogen wurde, der unautorisiert Beruhigungsmittel verabreicht haben soll? Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat die Kölner Kliniken um eine umfassende Stellungnahme gebeten. Im Detail jedoch wolle man sich wegen des „laufenden Verfahrens“ nicht äußern, ließ Kliniken-Sprecher René Hartmann wissen. „Die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Beschuldigten“ jedoch würden „äußerst ernst“ genommen.

Im Landgericht Aachen läuft die „Sachverhaltsklärung“ am Freitag auf vollen Touren. S. hätte ihm nach seiner Festnahme gesagt, dass er um seinen Job gebangt habe, wenn er sich etwa bei der Medikamentenvergabe an alle Vorschriften gehalten hätte, berichtet der Vernehmungsbeamte.

Mordermittler kamen vor Gericht die Tränen

Zwischenzeitlich kommen dem erfahrenen Ermittler die Tränen. „Wenn ich bedenke, dass da völlig hilflose Menschen lagen“, sagt er, und fängt sich wieder. S. jedenfalls habe damals behauptet, die Ärzte in Rufbereitschaft hätten nachts im Rhein-Maas-Klinikum bei Komplikationen nicht angerufen werden wollen. Einmal, als er das wegen eines Notfalls dann doch getan habe, sei er „übel beschimpft und als unfähig“ bezeichnet worden.

„Ende des vergangenen Jahres wurden wir von den zuständigen Ermittlungsbehörden erstmals über die Einleitung des Verfahrens informiert und haben umgehend auch eine interne Prüfung des Sachverhalts in die Wege geleitet“, so Hartmann: „Seitdem arbeiten wir eng mit den Behörden zusammen, um die Aufklärung in jeder Hinsicht zu unterstützen.“ Auch weiterhin würden „sämtliche erforderlichen Informationen zur Verfügung“ gestellt, „um eine umfassende Sachverhaltsaufklärung zu ermöglichen“.

„Aus Pragmatismus“ und damit „der Laden läuft“ habe er die Mittel dann schließlich selbst verabreicht, habe S. gesagt. „Denn der einzige Anspruch, den die Patienten haben, ist friedlich einzuschlafen“, habe der Angeklagte sein Tun gerechtfertigt. Ob S., der vermutlich am 28. April vor Gericht aussagt, damals denn tatsächlich „empathisch gegenüber seinen Patienten gewirkt“ habe, will der Vorsitzende Richter plötzlich wissen. „Mein Eindruck war das nicht“, entgegnet der Polizeibeamte im Zeugenstand.