Paul (Name geändert) war süchtig nach Benzodiazepinen. Hier erzählt er, was das Medikament, an das man leicht kommt, so gefährlich macht.
Schlafmittel häufig vom Arzt verschrieben„Benzos waren von allen Drogen mit Abstand das Schlimmste“
„Es gibt nichts, was ich nicht kenne“, sagt Paul (Name geändert): „Benzos waren von allen Drogen mit Abstand das Schlimmste.“ Seine Suchtkarriere begann mit Cannabis, ging über Speed und Ecstasy hin zu Alkohol, Kokain und Opiaten. Als er irgendwann sein Alkoholproblem in den Griff bekommen will, recherchiert er im Internet und erfährt davon, dass bei der Entgiftung Benzodiazepine (kurz: Benzos) eingesetzt werden können, um Entzugssymptome zu lindern. Er versucht also eine Alkoholentgiftung auf eigene Faust, unterschätzt aber das Abhängigkeitsrisiko der Medikamente. Nach vier Wochen trinkt er zwar nicht mehr – kommt ohne Tabletten aber kaum noch durch den Tag.
Ärzte verschreiben oft leichtfertig
In der Medizin werden Benzos eingesetzt, um Schlafprobleme oder Angststörungen zu lindern. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen bekommt etwa jeder 20. gesetzlich Krankenversicherte mindestens einmal jährlich ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine und weiterer schlaffördernder Medikamente verschrieben. Die Medikamente haben zum Beispiel Namen wie Tavor, Radedorm, Noctamid, Diazepam-ratiopharm oder Oxazepam.
Richtig eingesetzt kann der Nutzen der Medikamente groß sein: Zur Linderung von Schlafstörungen und Angstzuständen oder im Fall einer Panikattacke können sie kurzfristig Abhilfe schaffen. „Benzodiazepine haben den Vorteil, dass sie akut und nebenwirkungsfrei viele Symptome lindern“, erklärt Stefan Romberg, Oberarzt in der Suchtmedizinischen Tagesklinik in Hamm. Andere Medikamente bräuchten meist länger, um zu wirken, oder hätten starke Nebenwirkungen. Es müsse aber immer der Grundsatz gelten: „je kürzer, desto besser“, sagt Romberg, denn der Gewöhnungseffekt trete häufig schneller ein als die Patienten es erwarteten. Benzodiazepine seien im besten Fall nur eine Notfallmedizin für einige Tage.
Wer aber einmal von seinem Arzt Benzos verschrieben bekommen habe, komme leicht an weitere Rezepte, erzählt Paul. In seiner Erfahrung reichte ein Anruf beim Hausarzt, die Arzthelferinnen und Arzthelfer hätten das Rezept dem Arzt nur noch zur Unterschrift vorgelegt. Auch der Suchtmediziner Stefan Romberg bestätigt diesen Eindruck: Benzodiazepine würden immer noch relativ leichtfertig verschrieben, trotz der hohen Suchtgefahr. In vielen Fällen geschieht das über Privatrezepte, sodass die Krankenkassen die Verschreibungen nicht erfassen.
Der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zufolge sind etwa 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen von Benzodiazepinen oder anderen Schlafmitteln abhängig. Zum Vergleich: Alkoholabhängig sind in Deutschland etwa 1,6 Millionen Menschen.
Benzos im Party-Setting beliebt
Viele der jüngeren Klienten hätten ursprünglich Benzodiazepine konsumiert, um psychische Probleme wie Ängste, Depressionen oder Schlafstörungen zu lindern, und seien dann in die Abhängigkeit gerutscht, berichtet die Jugend-Suchtberatung Köln. Aber auch im Party-Setting werden die Medikamente missbraucht: „Darüber hinaus nutzen junge Menschen Medikamente zum ‚Runterkommen‘, um Angstepisoden nach High-Zuständen im Party-Setting abzufangen.“
So machte auch Paul seine ersten Erfahrungen mit Benzodiazepinen, noch bevor er sie regelmäßig einnahm, um vom Alkohol loszukommen: Nach dem Konsum von Kokain versuchte er, Einschlafprobleme und Angstzustände mit Benzos zu lindern. Ein solches Konsumverhalten werde oft gar nicht als bedenklich eingeschätzt, berichtet die Kölner Einrichtung, vielmehr komme die Problematik im Laufe von Beratungsgesprächen zum Vorschein.
Ältere Menschen oft von niedrigen Dosen abhängig
Der größte Teil der Benzodiazepin-Konsumenten sind jedoch ältere Menschen. Der überwiegende Teil der ärztlichen Verschreibungen falle auf Patienten zwischen 65 und 85 Jahren, teilt die DAK-Gesundheit auf Anfrage mit. Ein zuletzt veröffentlichter Bericht der Bundesvereinigung der Ortskrankenkassen (AOK) zeigt, dass gerade in Pflegeheimen in NRW die Verordnungsdauer von Benzodiazepinen und weiteren Schlafmitteln im Bundesvergleich erhöht ist. Während bundesweit etwa 7,6 Prozent der Heimbewohner problematisch lange solche Medikamente verordnet bekommen, sind es in Nordrhein-Westfalen 12,8 Prozent.
Ältere Menschen konsumieren meist geringe Mengen Benzodiazepine, Experten sprechen von einer „Niedrigdosisabhängigkeit“. Auch dabei stellt sich jedoch ein Gewöhnungseffekt ein. Symptome wie Schlafprobleme, Unruhe und Depressionen treten in verstärkter Form erneut auf. Das kann es für Patienten verlockend erscheinen lassen, die Dosis zu erhöhen – was wiederum zu einem Gewöhnungseffekt führt.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen berichtet von möglichen Langzeitfolgen wie zunehmenden Depressionen und dem Rückzug aus familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Zudem kommt es auch zu Nebenwirkungen wie emotionaler Taubheit, Schlafstörungen, einer erhöhten Sturzgefahr und Demenz. Symptomen, bei denen schwer zu beurteilen ist, ob sie dem Alter oder dem Medikament geschuldet sind.
Aber auch eine Entgiftung geht mit gesundheitlichen Risiken einher. Die Entzugssymptome können ohne ärztliche Betreuung lebensbedrohlich sein. Hier müsse man als Arzt abwägen, ob eine Entgiftung medizinisch sinnvoll sei, sagt Romberg.
Entzug kann lebensbedrohlich sein
Benzodiazepine müssen unter ärztlicher Begleitung, teilweise über mehrere Wochen herunter dosiert werden, es kann zu Panikattacken und Krampfanfällen kommen. Deshalb findet das Absetzen der Medikamente oft stationär statt. Für die Dauer der Suchttherapie spielt aber auch die Dauer des Konsums eine Rolle. Patienten, die über Jahrzehnte Benzodiazepine eingenommen hätten, könnten nach einer erfolgreichen Entgiftung noch über mehrere Jahre Entzugserscheinungen haben, erklärt Romberg. Dazu zählten unter anderem innere Unruhe, Muskelzuckungen, Kopfschmerzen, und Wahrnehmungsstörungen – die Verlockung der Patienten, diese Symptome wiederum mit Benzodiazepinen zu lindern, sei groß.
Paul, der schon sieben Entgiftungen von mehreren Drogen hinter sich hat, beschreibt seinen Benzo-Entzug als den härtesten bisher. Vier Wochen lange habe er kaum länger als zwei Stunden pro Nacht geschlafen. „Ich lag auf Knien vor der Nachtschwester“, erzählt Paul, er habe in der Klinik nach Medikamenten gebettelt, sich wie ferngesteuert vom Suchtdruck gefühlt. Panikattacken, Depressionen, Körperwahrnehmungsstörungen. Er ist sich heute sicher, dass er die Entgiftung ohne Klinikaufenthalt nicht geschafft hätte.