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Putins geheime HilfeWas bringen Russland Nordkoreas Elitesoldaten an der Front?

Lesezeit 9 Minuten
Dieses von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik via AP veröffentlichte Foto zeigt den russischen Präsidenten Wladimir Putin (l.) und den nordkoreanischen Staatschef Kim Jong Un posieren für ein Foto während einer Unterzeichnungszeremonie der neuen Partnerschaft.

Nach Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums beläuft sich die Zahl der nach Russland entsandten Soldaten aus Nordkorea auf etwa 10.000.

Nordkorea hat nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums etwa 10.000 Soldaten nach Russland geschickt. Experten schätzen die Lage ein.

Um Punkt 12 Uhr schritt Mark Rutte zielstrebig auf das Rednerpult im Nato-Hauptquartier zu, um die Öffentlichkeit auf den neuesten Stand zu bringen. „Heute kann ich bestätigen, dass nordkoreanische Truppen nach Russland geschickt wurden und dass nordkoreanische Militäreinheiten in der Region Kursk stationiert wurden“, sagte der Nato-Generalsekretär kurz und bündig. Die Achse Pjöngjang-Moskau würde nicht nur eine „erhebliche Eskalation“, sondern auch eine „gefährliche Ausweitung des russischen Angriffskriegs“ darstellen. Zuvor wurde Rutte von einer südkoreanischen Delegation gebrieft. Hochrangige Vertreter des Geheimdienstes sowie des Verteidigungsministeriums in Seoul teilten mit ihm vertrauliche Informationen zu den Soldaten aus Nordkorea.

Das Pentagon geht davon aus, dass Nordkorea 10.000 Soldaten nach Russland geschickt hat, wo sie auf den Kriegseinsatz vorbereitet werden. Erste sollen bereits in der Ukraine sein. Das ukrainische Militär bestätigte dies. Nachts würden mehr und mehr Soldaten zu Trainingsplätzen im besetzten Kursk gebracht, auch Mitarbeiter der nordkoreanischen Botschaft seien als Dolmetscher dort. Laut ersten Einschätzungen soll es sich bei den Soldaten nicht um das gewöhnliche Fußvolk der 1,3 Millionen starken Volksarmee handeln – jenen Kräften also, die oftmals unterernährt und schlecht ausgebildet sind.

Stattdessen wird vermutet, dass Machthaber Kim insgesamt vier Brigaden aus dem berüchtigten 11. Armeekorps der nordkoreanischen Volksarmee entsendet – eine angebliche Spezialeinheit, die mindestens 40.000 Soldaten umfasst. Kim hatte Einheiten des 11. Armeekorps seit September mindestens zweimal persönlich inspiziert. „Bei diesen Einheiten handelt es sich wahrscheinlich um nordkoreanische Elitesoldaten, die über gewisse Spezialfähigkeiten verfügen“, kommentierte jüngst Chun In Bum, ein pensionierter Generalleutnant der südkoreanischen Armee. Belege dafür gibt es bisher nicht.

Nordkoreanische Truppen: Symbolischer Nutzen, aber kaum militärischer Vorteil

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj befürchtet, dass die nordkoreanischen Truppen noch in dieser Woche zum Kämpfen an die Front gebracht werden. Ukrainische Kommandeure sollen bereits vor einem Angriff „in den nächsten Tagen“ gewarnt worden sein. Die ukrainische Armee hat ein ukrainisch-koreanisches Handbuch herausgegeben, mit dem ihre Truppen nordkoreanische Soldaten ansprechen und zur Kapitulation auffordern können. An mehreren Stellen entlang der Frontlinie sollen die Russen nordkoreanische Flaggen gehisst haben, um die Anwesenheit nordkoreanischer Kräfte vorzugeben. Russland versucht offenbar, die Unterstützung aus Nordkorea größer erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist, sagen Beobachter.

„Alles in allem ist der politische und propagandistische Wert der nordkoreanischen Soldaten viel größer als ihr militärischer Wert“, sagt András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Durch den Einsatz nordkoreanischer Soldaten im Krieg könne Putin demonstrieren, dass er nicht isoliert sei. Vor allem innerhalb Russlands sei die Botschaft wichtig, dass Moskau Verbündete habe, auf die es sich verlassen kann. Doch der militärische Nutzen der nordkoreanischen Streitkräfte ist äußerst begrenzt. „Russland bekommt aus Nordkorea nur die Soldaten, also die reine Arbeitskraft, keine schweren Waffen, keine Fahrzeuge, keine Artillerie“, so der Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Diese Männer seien also nicht in der Lage, allein zu kämpfen. „Sie sind in jeder Sekunde auf die Russen angewiesen und völlig abhängig von ihnen.“ Waffen, Logistik, Artillerieunterstützung oder Evakuierung bei einer Verletzung in Gefechten – immer müssten sich die Nordkoreaner auf die Russen verlassen.

Der Experte sieht die nordkoreanischen Kräfte bei Kämpfen in der Ukraine vor einer Vielzahl an Problemen – das größte sei die Sprachbarriere. Die Russen hätten nur eine sehr begrenzte Anzahl an Dolmetschern und überhaupt sei das Dolmetschen über Funk, inmitten von Kampfgeräuschen oder in einem fahrenden Fahrzeug, sehr kompliziert und äußerst fehleranfällig. „Die nordkoreanischen und russischen Truppen sind praktisch nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren“, sagt Rácz. Laut südkoreanischem Geheimdienst hat das russische Militär versucht, den Soldaten die 100 wichtigsten Befehle beizubringen – doch kaum etwas sollen die Nordkoreaner verstanden haben. Nicht einmal die Karten könnten die nordkoreanischen Soldaten lesen, da sie in kyrillischer Schrift geschrieben sind.

Russland und Nordkorea: Partnerschaft destabilisiert internationale Sicherheit

Es ist nicht das erste Mal, dass sich nordkoreanische Soldaten in der Ukraine aufhalten. Russland hat bereits vor Monaten eine kleine Zahl in die besetzten Gebiete der Ukraine gebracht. Erst Anfang Oktober wurden sechs Soldaten in der besetzten Region Donezk bei einem Raketenangriff getötet, drei weitere verletzt. Zuvor sollen die Russen schon Dutzende Nordkoreaner für den Bau von Befestigungsanlagen in die besetzten Gebiete gebracht haben. Moskau und Pjöngjang hatten im Juni einen Sicherheits- und Verteidigungsvertrag unterzeichnet. Der russische Außenminister Sergej Lawrow gab sich zuletzt nicht einmal Mühe, die nordkoreanische Hilfe abzustreiten. Wenn jemand davon überrascht sei, sei er selbst schuld.

Südkorea fürchtet nun, dass Tausende nordkoreanische Soldaten Kriegserfahrungen in der Ukraine sammeln könnten, um sich für den Ernstfall auf der koreanischen Halbinsel zu rüsten. Zudem versorgt Russland die Nordkoreaner auch mit neuester Militärtechnologie und anderen Hightechprodukten, die Pjöngjang wegen internationaler Sanktionen nicht auf regulärem Weg bekommen kann. Für Kim ist der Hilferuf aus Moskau zugleich ein enormer Prestigegewinn. Im Kern jedoch sind Kims Söldner für ihn vor allem finanziell ein gutes Geschäft.

Einer aktuellen Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung zufolge betragen die nordkoreanischen Waffenlieferungen seit Beginn des flächendeckenden Angriffskriegs gegen die Ukraine zwischen 1,7 und 5,5 Milliarden US-Dollar. Es handelt sich dabei vorwiegend um Artilleriemunition und Kurzstreckenraketen. Moskau hat nach Nato-Angaben aus Pjöngjang Millionen Schuss Munition und ballistische Raketen erhalten. „Der Ukraine-Krieg hat die Sicherheitslage in Ostasien verschlechtert. Russland und Nordkorea arbeiten daran, die internationale Ordnung zu destabilisieren“, bilanziert Frederic Spohr von der Friedrich-Naumann-Stiftung Korea.

Hohe Verluste nordkoreanischer Soldaten in ukrainischen Kämpfen erwartet

Die Zahlen der Studie beruhen zwar auf Geheimdienstberichten und geleakten Dokumenten und können daher nicht mehr als eine grobe Schätzung sein. Doch allein die Dimension zeigt bereits, wie stark die Kooperation mit Russland das Land von Kim Jong Un voranbringen wird. Zum Vergleich: Nordkoreas gesamte Volkswirtschaft wird von der Zentralbank in Seoul auf lediglich 23 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das Geschäft mit nordkoreanischen Arbeitskräften ist nicht neu: Schon seit Langem schickt Nordkorea Tausende Zwangsarbeiter in Arbeitsbrigaden nach Russland, China und in andere Länder.

In der Ukraine stehen die nordkoreanischen Soldaten womöglich bald den kampferfahrenen ukrainischen Einheiten gegenüber. „Wenn Russland die Nordkoreaner in den Kampf schickt, sterben sie wie die Fliegen“, sagt Experte Rácz. Zwar hat Russland in der Vergangenheit auch gemeinsame Übungen mit Nordkorea abgehalten. Doch intensive Gefechte für den Ernstfall hätten die Nordkoreaner nicht zusammen mit den Russen geübt, so der Experte. Hinzu kommt: „Die russischen Waffen unterscheiden sich grundlegend von den nordkoreanischen, und den Soldaten fehlt es an echter Kampferfahrung.“ Auch der Drohnenkrieg und die elektronische Kriegsführung seien für sie neu. „Diese enormen Defizite führen unweigerlich zu enormen Verlusten“, sagt Rácz.

Nach Angaben der Nato sind seit Kriegsbeginn mehr als 600.000 russische Soldaten verwundet oder getötet worden. Dass ein paar Tausend vergleichsweise schlecht ausgebildete Kämpfer aus Nordkorea die Lücken füllen könnten, halten Beobachter für einen Irrglauben. Für Russland ist es aber attraktiv, die Nordkoreaner zur Sicherung der Grenze in Kursk, Brjansk oder Belgorod einzusetzen, wo es gerade sehr ruhig ist. „Aber wenn die Russen sie in den Kampf schicken, werden sie wortwörtlich abgeschlachtet“, macht Rácz deutlich.

Reaktion des Westens gefordert

Selenskyj hatte bereits am Wochenende vehement eine entschiedene Reaktion des Westens auf den Einsatz der nordkoreanischen Soldaten gefordert. „Die Ukraine wird faktisch gezwungen sein, in Europa gegen Nordkorea zu kämpfen“, sagte er und warnte vor weiteren zivilen Opfern. Bisher gab es aber nur vereinzelt scharfe Worte von EU und Nato, konkrete Maßnahmen blieben aus. „Abstraktionen und Worte sind zu wenig, es braucht konkrete Schritte“, sagte Selenskyj. Sonst fühle sich Putin zu weiterem Terror motiviert. Wenn Tausende nordkoreanische Soldaten in der Ukraine kämpfen, dürften auch die Rufe nach einer Entsendung europäischer Soldaten lauter werden.

Hinter den Kulissen laufen intensive Gespräche zwischen dem südkoreanischen Geheimdienst und den EU-Staaten in Brüssel. Am Dienstag berieten die Botschafter der Mitgliedsstaaten mit Geheimdienstlern über die neue Lage. „Es wird eine angemessene Reaktion geben“, kündigte eine Sprecherin der EU-Kommission an. In einem Telefonat zwischen dem südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk Yeol und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hieß es, Russland könnte die Truppen aus Nordkorea sogar noch früher als erwartet an die Front schicken. Die Zeit drängt also und noch in dieser Woche wird eine südkoreanische Delegation aus Vertretern des Geheimdienstes und des Verteidigungsministeriums in der Ukraine erwartet, um gemeinsame Gegenmaßnahmen auszuloten. Südkorea könnte die Lieferung von Hightechgütern an Russland einstellen oder einige seiner Patriot-Luftverteidigungssysteme und Artilleriemunition an die Ukraine liefern.

China hält sich zurück

Ungewöhnlich still ist es plötzlich um China geworden. Seit Wochen versucht das chinesische Außenministerium, das Thema auszusitzen. Fragt ein Reporter bei der täglichen Pressekonferenz nach den nordkoreanischen Soldaten in Russland, heißt es bloß: „China ist sich der entsprechenden Situation nicht bewusst.“

Dabei dürfte China an der beispiellosen Annäherung zwischen Pjöngjang und Moskau keinen Gefallen finden. Allein schon, weil es Nordkoreas Abhängigkeit gegenüber dem mächtigen chinesischen Nachbarn reduziert. Und obwohl Xi Jinping sich stets gegen eine „Blockbildung“ wie zu Zeiten des Kalten Krieges ausgesprochen hat, hält sich die Parteiführung bislang mit öffentlicher Kritik vollkommen zurück. Man muss schon genau hinschauen, um zwischen den Zeilen die versteckte Kritik zu lesen: So blieb etwa der chinesische Botschafter in Pjöngjang einer Feier zum Ende des Koreakriegs fern – nur wenige Wochen nachdem Kim und Putin einen weitreichenden Militärpakt unterzeichnet hatten.

In Chinas akademischen Kreisen wird das Thema aufgrund seiner politischen Sensibilität vorsichtig behandelt, doch lassen sich durchaus ambivalente Einschätzungen finden. „Meiner Ansicht nach hatten Nordkorea und Russland, die beide unter enormem strategischen Druck stehen, keine andere Wahl, als engere Beziehungen zu knüpfen“, kommentiert etwa Feng Yujun, Historiker an der renommierten Peking-Universität. „Unter immensem Druck streben Nordkorea und Russland danach, die Blöcke aus der Zeit des Kalten Krieges (...) wiederherzustellen; in der festen Absicht, China in ihr Lager zu ziehen.“

Doch genau dieses Vorhaben sei zum Scheitern verurteilt, glaubt der Historiker. Die Stärke Russlands und Nordkoreas habe nachgelassen, und sie reiche sicher nicht aus, dem Nato-Bündnis und seinen Partnern in Ostasien die Stirn zu bieten. Feng Yujun, der als vergleichsweise kritischer Geist gilt, zieht eine durchwachsene Schlussfolgerung: Russland und Nordkorea können durch ihre Kooperation ein paar kurzfristige Vorteile erreichen, doch langfristig werden die strategischen Nachteile überwiegen. China solle sich hüten, unnötigen Ärger auf sich zu ziehen.