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Nach KriegsendeWie eine kleine Stadt im Erzgebirge zum militärisch weißen Fleck wurde

Lesezeit 6 Minuten

Künstler und Kneipenbesitzer Beier (2. v. l.): Es war eine ziemlich gute Idee, „die in den Dreck gezogen wurde“.

  1. Das Erzgebirgs-Städtchen Schwarzenberg wurde nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zum einem vermeintlich toten Winkel – der Landkreis blieb von den Aliierten unbesetzt.
  2. Sechs Wochen herrschte eine Ausnahmesituation, die im Nachkriegsdeutschland beispiellos ist. Kommunisten und Sozialdemokraten nutzten das Machtvakuum, um so etwas wie eine Volksdemokratie zu etablieren.
  3. Doch der kurze Traum von einem selbstverwalteten Territorium endete sechs Wochen später. Zu den Gründen für das vorübergehende Ausbleiben der Sieger gibt es unterschiedliche Theorien.

Schwarzenberg

Vermutlich war es Zufall, dass sich die neuen Wutbürger, die ihrem Ärger über staatliche Eingriffe wegen der Corona-Pandemie, auch in Sachsen Luft machen, ausgerechnet am 9. Mai zu einer nicht genehmigten Kundgebung in Schwarzenberg trafen. Ein Treppenwitz der Geschichte ist es allemal. Fast auf den Tag vor 75 Jahren hatte in dem Erzgebirgs-Städtchen eine sechs Wochen andauernde Ausnahmesituation begonnen, die im Nachkriegsdeutschland bespiellos ist. Der Landkreis blieb von den Alliierten unbesetzt.

Als sich vier Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht weder Amerikaner noch Sowjets in dem vermeintlich toten Winkel hatten blicken lassen, nutzte „ein Häuflein wackerer Antifaschisten“ das Machtvakuum, um „so etwas wie eine Volksdemokratie zu etablieren“, wie der Schriftsteller Volker Braun 2004 in seinem Roman „Das unbesetzte Gebiet“ schreibt.

Vermeintliche Demokratieverfechter missbrauchen den Mythos

Ihn hat das „Modell Schwarzenberg, der 42 Tage lang anhaltende Schwebezustand“, lange vor der literarischen Verarbeitung fasziniert, weil es die „plötzliche, wenn auch zeitlich begrenzte Chance bot, durch eine basisgesteuerte Eigendynamik ein gesellschaftliches System auszuprobieren“.

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Und im Mai 2020 missbrauchen manche der vermeintlichen Demokratieverfechter den Mythos „Freie Republik Schwarzenberg“ für ihre Ziele: Sie blockieren eine Bundesstraße und brüllen „Corona-Wahnsinn stoppen! Freiheit jetzt“. In Unkenntnis der historischen Hintergründe verdrehen sie die Fakten und reklamieren für sich eine diffuse Unabhängigkeit.

Schon bei früheren Aktionen waren rechte und rechtsextreme Gruppen wie der Verein „Freigeist“ mit von der Partie und verbreiteten nach „Reichsbürger“-Manier krude Fantasien von einem eigenständigen Kleinstaat Schwarzenberg und der „Abkoppelung von der BRD“.

Gewaltmarsch von Prag über den Erzgebirgskamm

Karl-Heinz Pötzsch war gerade mal 16, als er humpelnd und auf einen provisorischen Krückstock gestützt nach einem elend langen Gewaltmarsch von Prag über den Erzgebirgskamm vor seinem Elternhaus in Schwarzenberg stand. Trotz der Freude über den verwundeten Heimkehrer musste ihm seine Mutter noch auf der Türschwelle eröffnen, dass sein Bett und auch das Sofa in der Küche „anderweitig belegt“ seien.

„Ein Freund meines Vaters, Kommunist wie er, hatte aus Angst vor marodierenden Wehrmachtsangehörigen samt Familie Unterschlupf bei uns gesucht“, erzählt Pötzsch dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor fünf Jahren.

„Wir wollten nur unsere Haut retten“

Inzwischen lebt er nicht mehr. „Wir befanden uns in einem Niemandsland, ohne es richtig zu merken.“ Für den manchmal etwas verklärten Blick auf die Ereignisse im Mai 1945 zeigt er wenig Verständnis: „Visionen hatten wir keine. Wir wollten nur unsere Haut retten, egal ob vor den Russen oder vor den Amis.“

Manfred Degen, ein anderer verstorbener Zeitzeuge, war Anfang Mai mit 18 desertiert. Das Mythos von einem Landstrich, in dem sozusagen Milch und Honig flossen, mit einem unschuldigen Sozialismus, sei ein „schönes Hirngespinst gewesen, mehr nicht“. Das sagt aus großer zeitlicher Distanz einer, der als Leiter der örtlichen Handelsorganisation „HO“ natürlich eng verbandelt war mit dem SED-Regime.

„Streng strategisches und revolutionäres Muster“

Im Vorwort zu einer kritischen Bestandsaufnahme der Schwarzenberg-Legende urteilt der DDR-kritische Schriftsteller Lutz Rathenow, entgegen einer bis heute virulenten Deutung habe es in jenen sechs Wochen im Erzgebirge keinen „moralisch überlegenen humanistischen Sonderweg“ gegeben. Der am 12. Mai, vier Tage nach Kriegsende, gebildete „antifaschistische Aktionsausschuss“ habe sich ohne Anordnung ähnlich verhalten wie später die sowjetischen Besatzer.

Dieses Gremium sei „streng strategisch nach revolutionärem Muster vorgegangen“, urteilt die Schwarzenberger Autorin und Fotografin Lenore Lobeck nach intensiven Archivrecherchen: Unverzüglich besetzten bewaffnete Arbeiter das Rathaus, zwangen den Noch-Bürgermeister zum Rücktritt, übernahmen die Schlüsselstellen in der Verwaltung und bildeten eine Hilfspolizei, die in aller Eile aus roten Fahnenresten genähte Armbinden trug. Im Ausschuss saßen zusammen mit zwei SPD-Leuten dieselben vier Kommunisten, die schon 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Arbeiter- und Soldatenräte proklamiert hatten.

Niemand war an der schon bald einsetzenden Legendenbildung so eifrig beteiligt wie der zeitweilige Schwarzenberger Polizeichef Paul Korb. In den Schulen wurde er als Vorzeige-Kommunist der Stunde null herumgereicht. Gern ließ Korb sich dabei als „Innenminister“ des eigentlich nie existierenden Mini-Staats Schwarzenberg titulieren. Derselbe Korb spürte mit Jagdeifer Jugendliche auf, die an NS-Wehrertüchtigungslagern teilgenommen hatten. „Besonders abgesehen hatte man es auf Kinder von Handwerkern und Gewerbetreibenden“, erzählt der frühere Direktor des Gymnasiums und Heimatforscher Friedrich Hofmann. „Mir hat Korb gesagt, diesen Bourgeois-Söhnchen hätten ja mal die Hammelbeine langgezogen werden müssen.“

Ende Juni endete die Episode um den militärisch weißen Fleck

Manches an der Schwarzenberg-Saga ist Fiktion und Utopie – Fakt aber ist, dass die US-Army unter General Omar N. Bradley aus westlicher Richtung bis Auerbach und Zwickau und die 1. Ukrainische Front unter Marshall Iwan S. Konew aus der Gegenrichtung bis Annaberg vorgerückt waren – ohne sich des eroberten Gebietes zu bemächtigen. Volker Braun schreibt lakonisch, die Schwarzenberger hätten unterdessen Theater gespielt: „Ein Laienspiel, das der Ami grinsend, der Iwan verblüfft verfolgte, bevor das agitatorische Stück abgesetzt wurde.“

Am 26. Juni 1945 endete die Episode um den militärisch weißen Fleck. „Der Russe“, erinnerte sich der frühere SED-Funktionär Manfred Degen, „rückte nicht mit Panzern ein, sondern mit Panjewagen und auf Steppenpferden.“ Die Rote Armee erklärte die Villa Lanz in der Robert-Koch-Straße zum Sitz ihrer Kommandantur, und hohe Offiziere residierten fortan in weiteren beschlagnahmten Fabrikanten-Anwesen.

Rätsel über das vorübergehende Ausbleiben der Sieger

Damit endete unwiderruflich der kurze Traum von einem selbstverwalteten Territorium unter Führung von Kommunisten und Sozialdemokraten. Dieser schönen Illusion hing auch Stefan Heym in seinem 1984 erschienenen Roman „Schwarzenberg“ nach, der nur im Westen herauskommen durfte, weil er darin auch Stalins Terrorregime thematisiert. Heym war nach Kriegsende in der Uniform der US-Army als Befreier nach Deutschland heimgekehrt und glaubte nie, dass hinter der vorübergehend unbesetzten Zone taktische oder politische Überlegungen stehen könnten.

Über die Gründe für das vorübergehende Ausbleiben der Sieger ist jahrzehntelang gerätselt worden. Besonders langlebig war die Legende, Schwarzenberg sei schlicht „vergessen“ worden. Andere Theorien sprechen von einem zunächst unklaren Verlauf der Grenze zwischen den Besatzungszonen. Unausrottbar auch die Version, die Gegend sei in Absprache der Wehrmacht mit Washington als Pufferzone für heimkehrende deutsche Soldaten gedacht gewesen, die nicht den „Bolschewisten“ in die Hände fallen sollten. Inzwischen weiß man aus neueren Forschungen, dass es vor dem 8. Mai eine Vereinbarung zwischen Sowjets und Amerikanern gab, jeweils bis zum 13. Längengrad vorzustoßen. Knapp westlich davon liegt Schwarzenberg.

„Nennen wir es: Republik Schwarzenberg“

In seiner Geschichte, einem Gegenentwurf zum real existierenden DDR-Sozialismus , lässt Stefan Heym einen Lieutenant Lambert und einen Sergeant Whistler eine 25-Cent-Münze in die Luft werfen, um festzulegen, wie weit die Amerikaner vorstoßen dürfen. „Nennen wir’s nicht Niemandsland, nennen wir es: Republik Schwarzenberg“, heißt es in Heyms Roman.

Er wurde von vielen in der Stadt offenbar als Tatsachenbericht gelesen und brachte eine Künstlergruppe um den Bildhauer Jörg Beier vor Jahren auf die Idee, die „Freie Republik Schwarzenberg“ auszurufen – mit Ortsschild, Einreisegenehmigung und eigenen Pässen. Man habe keinerlei separatistische Absichten, erklärt augenzwinkernd der temperamentvolle Kneipenwirt Beier, in der DDR wegen „staatsfeindlicher Hetze“ in Haft. Sein Projekt sei „ein Utopia, ein Atlantis, vor allem aber ein geistreicher Spaß“.

Derweil mögen Beier und seine Truppe sich von ihrer schönen Utopie nicht einfach verabschieden, „bloß weil die SED-Fuzzis eine ziemlich gute Idee in den Dreck gezogen haben“.