Interview mit Historiker Brendan Simms„Hitler alterte sehr schnell ab dem Jahr 1941”
- In seiner neuen Biografie „Hitler“bricht der britische Geschichtsforscher Brendan Simms mit vielen verbreiteten Ansichten über die Intentionen und Antriebskräfte des Diktators.
- Ein Interview über unbekannte Seiten des deutschen Diktators, der über lange Zeit bewusstseinsstörende Medikamente zu sich nahm.
Professor Simms, in den letzten Tagen hegte Adolf Hitler nach dem Tod des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt die Hoffnung, das Schicksal würde sich auch bei ihm wie bei Friedrich II. wenden und er als Sieger aus dem Krieg hervorgehen. Doch es kam anders und Hitler beging Selbstmord. Wie waren die letzten Tage in dem Bunker an der Reichskanzlei?
Hitler suchte nach Auswegen. Er sah die Analogie zum dem Mirakel des Hauses Brandenburg, wo 1762 Friedrich der Große gerettet wurde durch den Tod der russischen Zarin. Hitler hatte ein Bild von Friedrich II. in seinem Büro. Aber im Grunde hatte er da schon die Hoffnung aufgegeben. Es ging ihm da um das, was man den inszenierten Untergang genannt hat: Das Volk durfte seiner Meinung nach nicht kampflos untergehen, es könnte nur wiedererwachen, wenn es nicht schmählich untergeht wie 1918.
Hitler fand sein Ende in einer Stadt, in der Ende 1932 die Kommunisten bei den Wahlen mit 37,7 Prozent noch deutlich vor der NSDAP gelegen hatte, die in der deutschen Hauptstadt auf nur 22,5 Prozent der Stimmen kam.
Hitlers Verhältnis zu Berlin war nicht so schlecht, wie oftmals behauptet wurde, und sein Verhältnis zu München nicht so gut, wie viele erklärt haben.
Warum nicht zu München?
München nannte sich zwar „Hauptstadt der Bewegung“, aber es war eine Beschreibung, welche die Stadt für sich in der NS-Zeit nutzen wollte. Hitler auf der anderen Seite hatte in München seine größte Niederlage 1923 einstecken müssen. Zudem gab es immer wieder Konflikte mit separatistischen Bestrebungen, was es in Berlin so nicht gab. Nürnberg hing eher unzertrennlich mit Hitler und der Partei zusammen.
Hitler war 56 Jahre alt, als er den Suizid beging, aus heutiger Sicht sehr jung, er wirkte jedoch wie ein alter Mann. Wie erklärt sich das?
Hitler wirkte Anfang der 1940er jünger als er war und alterte sehr schnell ab 1941. Der erste Kollaps kam August 1941. Die Winterkrise 1941 und weitere Tiefschläge 1942 wirkten massiv auf ihn ein, die geopolitischen Belastungen stiegen immer weiter. Auch die medizinischen Interventionen nahmen zu. Über lange Zeit nahm Hitler bewusstseinsstörende Medikamente zu sich. Dennoch funktionierte er und war nur kurzweilig K.O.
War Hitler ein Dilettant? Er führte ein großes Land in einen katastrophalen Krieg, als er im Führerbunker saß, war dieses Land eine einzige Ruine, weil seine Pläne nicht aufgegangen waren.
Es ist schwer zu sagen, ob er ein Dilettant gewesen ist. Vielleicht für den zweiten Teil des Krieges, nicht aber für den ersten Teil, ich erinnere nur an den Manstein-Plan, den er umsetzen ließ für den Frankreich-Feldzug. Es gab auch andere Entscheidungen von ihm, die militärisch richtig waren. Politisch hat er die ganze Welt gegen sich aufgebracht, andererseits schaffte er es aus kleinlichen Verhältnissen bis hin zur Kontrolle von ganz Europa und einem beträchtlichen Teil der Welt. Der Begriff „Dilettant“ trifft es nicht.
Das könnte Sie auch interessieren:
Dennoch schienen die Insassen im Führerbunker den Bezug zur Realität ja vollkommen verloren zu haben. Goebbels wollte nach Hitlers Ableben noch auf Augenhöhe mit Stalin über einen Waffenstillstand verhandeln, da stand die Rote Armee bereits 500 Meter vor der Reichskanzlei.
Hitler dachte ja auch, dass er noch zwischen den Sowjets und den Westalliierten manövrieren könnte. Er sagte, dass es ja nicht in Großbritanniens Interesse sein könnte, dass Deutschland völlig untergeht, denn dann würden die Russen dominieren. Solche Gedanken wurden im Kalten Krieg dann Realität, aber ohne Hitler, der ausgespielt hatte.
Hat die Rote Armee letztlich den Krieg gegen Hitler gewonnen und war sie sein Hauptgegner?
Das würde ich absolut nicht sagen. Hitler hat im Laufe des gesamten Krieges mit einigen Ausnahmen immer im Kampf gegen die Angelsachsen und den Kapitalismus gestanden und nicht in erster Linie gegen den Bolschewismus. Auch wenn die meisten Soldaten an der Ostfront gefallen sind, so war die deutsche Kriegswirtschaft – die Produktion von Panzern und Luftabwehr – so angesetzt, zu 70 Prozent gegen die Westalliierten gerichtet. Er hatte viel größere Angst vor den Westalliierten als vor Stalin. Für eine relativ kurze Periode, vom Sommer 1941 bis etwa zum Spätsommer 1942, konzentrierte er seine militärischen Mittel gegen die Sowjetunion. Spätestens ab Ende 1942 bis zum Schluss richtete sich die deutsche Kriegsanstrengung überwiegend gegen die Briten und Amerikaner.
Dabei galt die Stoßrichtung seiner Politik dem Osten durch die Lebensraum-Ideen. War das also gar nicht das primäre Ziel von Hitler?
Die Lebensraumpolitik war sein primäres Ziel, aber sie war nicht gegen Stalin gerichtet, sondern gegen die Anglo-Amerikaner. Sein Kalkül war, Deutschland hat den Ersten Weltkrieg verloren und ist in der Welt minderwertig, weil es keinen Raum hat. Die Amerikaner hatten aber den Raum. Er fand die schiere Weite Nordamerikas überwältigend. Also, so seine Schlussfolgerung, brauchen auch die Deutschen den Raum: erstens um die Bevölkerung zu ernähren, zweitens um sich die Bodenschätze zu sichern. Den Raum konnte man seiner Meinung nach nur im Osten gewinnen, weil das Gebiet an das Deutsche Reich angrenzte. Also nicht, weil dort der Bolschewismus vorherrschte, sonder weil man sich sagte, wir brauchen den Raum und Russland ist nah. Der Grund aber war, dass man gegen die Anglo-Amerikaner überleben wollte und nicht gegen die Russen. Es war ein Raubkrieg gegen die Sowjetunion, man bereicherte sich am Schwachen, um zu überleben. Er missachtete die Sowjetunion weitgehend und unterschätzte ihre Stärke.
Zur Person
Brendan Simms (52) ist Professor für Geschichte der internationalen Beziehungen in Cambridge. In einer Biografie „Hitler“, die soeben im DVA-Verlag erschienen ist, bricht er mit vielen verbreiteten Ansichten über die Intentionen und Antriebskräfte des Diktators.
Gab es einen Grund, dass Hitler so einen Respekt vor den Anglo-Amerikanern bzw. Angelsachsen hatte?
Bewunderung und Respekt entsprangen seinen Erfahrungen im Krieg. Hitlers Hauptgegner waren im Ersten Weltkrieg die Westalliierten, er hat vier Jahre lang gegen die Briten gekämpft, deren Zähigkeit er bewunderte, zudem gab es eine einprägsame Begegnung mit amerikanischen Soldaten im Sommer 1918, frischen Truppen, die erstmals in großer Zahl und hochmotiviert gegen erschöpfte Deutsche antraten. Unter ihnen waren auch viele Deutschstämmige. Als Hauptgrund für die Stärke der USA hatte er die Demografie ausgemacht, da der nordamerikanische Kontinent durch „Arier“ erschlossen worden sei, unter ihnen Millionen deutscher Auswanderer an vorderster Stelle. Pläne wurden gewälzt, um diese wertvollen rassischen Elemente zurückzuholen oder gegen deutsche Juden auszutauschen. Hitler erklärte später, wie dieses Aha-Erlebnis ihm die Augen geöffnet habe: Das Deutsche Reich, das einen Bevölkerungsüberschuss hatte, sei über Jahrhunderte durch die Auswanderung seiner besten und stärksten rassischen Elemente ausgehöhlt worden. Die absoluten Gegner, wie er sagte, waren für ihn England, Amerika und der internationale Kapitalismus.
Was dachte Hitler über den Kapitalismus?
Hitler war ein Gegner des internationalen Kapitalismus. Manchmal schien es auch so, das er überhaupt gegen den Kapitalismus an sich eingestellt war. Aber er hatte eine Schwäche oder Toleranz für das, was er als nationalen Kapitalismus bezeichnete: Krupp und solche Leute. Den internationalen Kapitalismus, den er eng mit dem Judentum verband, wenn auch nicht ausschließlich, machte er verantwortlich für das, was das Deutsche Reich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts für die Misere verantwortlich.
Das unterscheidet sich ja gar nicht so sehr von der Kritik der Bolschewisten an dem internationalen Kapitalismus.
Das ist richtig und auch der Grund dafür, dass die Allianz zwischen dem „Dritten Reich“ und der Sowjetunion im August 1939 nicht so überraschend war. Ribbentrop hat ja gesagt, dass es ihm in Moskau vorgekommen sei wie bei alten nationalsozialistischen Genossen. Die verstanden sich beide als Feinde des westlichen Kapitalismus, beide waren Außenseiter dieser Welt.
Hitler griff zunächst die Russen an, dann erklärte er den Amerikanern den Krieg. Warum?
Die Kriegserklärung gegen die Amerikaner erwuchs aus einem Ressentiment. Er warf dem US-Präsidenten Roosevelt vor, eigentlich schon im Krieg mit den Deutschen zu stehen, was nicht so ganz falsch war. Roosevelt lieferte Waffen an das Vereinigte Königreich über das Leih- und Pachtgesetz, er ließ deutsche U-Boote auf hoher See angreifen, usw. Ich mache das Roosevelt nicht zum Vorwurf, im Gegenteil, ich will nur erklären, warum Hitler ihn als Feind betrachtete. Stalin auf der Gegenseite hat Hitler sehr geholfen. Hitler hat ihn nicht angegriffen, weil Stalin ihm nicht geholfen hat, sondern einzig, weil er ihm das Land abnehmen wollte. Das ist alles so belegt in seinen Schriften.
Wie lässt sich der Antisemitismus Hitlers hier verorten – und war der Bolschewismus gar nicht sein primärer Gegner?
Seine ersten antisemitischen Äußerungen 1919 beziehen sich direkt auf den Zusammenhang zwischen Judentum und Kapitalismus und erwähnen den Bolschewismus mit keinem Wort und das zwei Jahre nach der Russischen Revolution. Hitlers Antisemitismus, den man nur als paranoid bezeichnen kann, entsteht nicht in seiner Zeit als junger Mann in Wien, höchstwahrscheinlich auch nicht während des Kriegs, sondern unmittelbar danach. Seine letzten Äußerungen über den Antisemitismus in seinem Testament von 1945 sind ähnlich: Er zieht über den Kapitalismus her im Verhältnis mit dem Antisemitismus, er erwähnt aber den Bolschewismus mit keinem Wort.
Was war Hitlers Ziel im Ringen mit den Westmächten, ihre Unterwerfung?
Hitler schwebte eine Art globale Parität vor: Deutschland sollte in seinen Augen Kontinentaleuropa beherrschen und genug Raum gewinnen, um sich als ebenbürtige Weltmacht gegenüber den Angelsachsen behaupten zu können. Er strebte die deutsche Herrschaft über Europa und die Hebung des deutschen Volks zu einer Herrenrasse an. Der Feldzug im Osten hatte aus seiner Sicht eine gewisse Notwendigkeit, einen Konflikt im Westen wollte er jedoch, wenn möglich, vermeiden. Der Rassenkampf, auf den er sich bezog, war auch, und sogar in erster Linie, eine Konfrontation zwischen Deutschen und Angelsachsen. Er hatte ja bis zu seinem Ende ein ambivalentes Verhältnis zu den Deutschen.
Die Deutschen waren aus seiner Sicht nicht die Nummer eins?
Die Angelsachsen bildeten für ihn die eigentliche Herrenrasse, zu der das mit Mängeln behaftete deutsche Volk erst durch ein soziales, ökonomisches und eugenisches Transformationsprogramm erhoben werden musste. Die Faszination durch Anglo-Amerika bestärkte Hitler in seiner Einschätzung der rassischen Unzulänglichkeit des deutschen Volks, das sich seiner Würdigkeit erst zu erweisen hätte.
Das Gespräch führte Michael Hesse