Am 7. Oktober hat die Terrormiliz Hamas israelische Zivilisten massakriert. Shimon Stein plädiert dennoch für eine Zwei-Staaten-Lösung – wenn Tel Aviv die Hamas militärisch besiegt hat.
Früherer Botschafter Israels in DeutschlandShimon Stein: Das Trauma bleibt bis zum Tod
Herr Stein, was verstehen Sie unter deutscher Staatsräson für die Sicherheit Israels?
Shimon Stein: Eine bisher einzigartige Antwort hat der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter gegeben. Er sagt, deutsche Staatsräson bedeute, sich im Notfall mit dem Leben für die Sicherheit Israels einzusetzen. Ich habe noch keinen deutschen Politiker gehört, der so weit gegangen ist: mit dem Leben. Er macht damit deutlich, dass deutsche Solidarität mit Israel uneingeschränkt ist. Mir reicht aber schon die langfristige Solidarität.
Haben Sie Zweifel daran?
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Nach meiner Erfahrung bröckelt Solidarität irgendwann. Das Gedächtnis hält nicht immer sehr lange. Schon jetzt verlagern sich die Bilder von dem schrecklichen Massaker der Hamas-Terroristen auf israelische Zivilisten am 7. Oktober hin zum Leiden der Palästinenser im Gazastreifen. Und sie leiden wirklich. Indem wir das Leid miteinander vergleichen, sind wir schon in einem anderen Film.
Was erwarten Sie von Deutschland?
Ich gehe davon aus, dass Herr Kiesewetter mit seiner Definition deutsche Soldaten meinte. Für mich kommt das gar nicht infrage. Israel hat Freunde nie gebeten, militärisch mit Truppen für uns zu kämpfen. Wie haben immer nur gesagt, wir brauchen die Mittel zur Verteidigung. Wir müssen uns auf einen relativ langen Krieg einstellen.
Inwiefern?
Wir haben das Ziel, die militärische Bedrohung aus dem Gazastreifen zu eliminieren. Die Terrororganisation Hamas hat seit Jahren ihre militärischen Fähigkeiten ausgebaut und unter Gaza City ein riesiges Tunnelsystem aufgebaut. Wir bombardieren das seit dem Überfall. Trotzdem werden jeden Tag aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel abgefeuert. Ein Krieg inmitten einer Stadt ist schwierig. Ich habe das als Soldat 1967 selbst erlebt, als ich in Gaza war. Es war verdammt blutig. Es gab zahlreiche Opfer auf beiden Seiten.
Was hat der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Tel Aviv gebracht?
Zu diesem frühen Zeitpunkt war es ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Es fügte sich in die Reihe wichtiger Besuche. Der Höhepunkt war zweifelsohne der Besuch von US-Präsident Joe Biden.
Welche Hoffnung gibt es für die von der Hamas verschleppten Geiseln?
Mir bereiten die Berichte wie über einen entführten Säugling und seine zweieinhalbjährige Schwester, die jetzt in den Händen der Hamas sind, schlaflose Nächte. Wie es ihnen wohl gehen mang in grausamer Gefangenschaft und in Hamas-Tunneln? Welche Zukunft werden sie haben? Die Traumata und Posttraumata, die die israelische Gesellschaft erlitten hat und noch erleiden wird, sind noch nicht absehbar. Es wird die Menschen bis zu ihrem Tod begleiten. Es muss alles dafür getan werden, um die Geiseln zu befreien. Israel wird einen Preis dafür bezahlen müssen.
Welchen?
Wir haben 6000 Hamas-Häftlinge. Ich weiß nicht, ob wir über sie sprechen müssen.
Wie groß ist die Bedrohung durch die Hisbollah?
Die Frage ist, ob die Hisbollah im Libanon ein Interesse hat, uns jetzt anzugreifen. Unterhalb der Schwelle der Eskalation testen sie uns mit partiellem Beschuss. So weit ich höre, ist die Hamas aber enttäuscht von der Hisbollah. Das zeigt, dass die Hisbollah, die jetzt mit in der Regierung sitzt, derzeit vorsichtig ist. 2006 hat Israel das Viertel der Hisbollah in Beirut dem Erdboden gleich gemacht. Hätte sie das vorher gewusst, hätte sie uns nicht angegriffen, hieß es später. Sollte es zu einer neuen Auseinandersetzung kommen, werden wir den Libanon massiv angreifen. Die Hisbollah wird aber vom Iran gestützt. Wenn der Iran sich entscheidet, Israel anzugreifen, hat er mit der Hisbollah eine zusätzliche Front gegen uns.
Sollte Ägypten palästinensische Flüchtlinge aufnehmen?
Ägypten ist zu Recht nervös wegen der möglichen Ausweitung des Konflikts auf das eigene Land. Hamas ist ein Zweig der Muslimbruderschaft, die unter Mohammed Mursi in Ägypten an der Regierung war, bevor der jetzige Präsident Abdel Fatah al-Sisi ihn wegputschte. Al-Sisi kann sich eine Destabilisierung seines Landes, das ohnehin größte Probleme hat, nicht leisten. Ich kann ihn verstehen.
Wo sollen die palästinensischen Flüchtlinge hin?
Wir haben die Bevölkerung von Gaza City aufgefordert, sich in den Süden zu begeben. Viele bleiben aber. Israel muss als westlicher Staat mit westlichen Normen darauf achten und auch humanitäre Hilfe für Palästinenser leisten. Dieser Verantwortung können wir uns nicht entziehen. Die hohen Erwartungen unserer Bürger verpflichten uns jedoch auch zur Abschreckung. Und wir müssen auf die Situation der Angehörigen der Geiseln eingehen: Sie ertragen es nicht, wenn wir humanitäre Hilfe leisten, solange ihre Kinder, Frauen, Männer und Mütter entführt sind.
Wie sehr treffen Israel die antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland?
Bin ich überrascht? Nein? Wird sich das fortsetzen? Ja! Deutschland muss im Rahmen des Gesetzes alles dagegen unternehmen. Die Ursachen sind aber bekannt. Die Integration von vielen Palästinensern in Deutschland ist gescheitert. Sie haben oft den Krieg aus ihrer Heimat mitgenommen und projizieren ihn jetzt auf deutschem Boden.
Ist eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina für immer verloren?
Sie ist momentan in weiter Ferne. Aber sie muss im Auge behalten werden. Die gegenwärtige israelische Regierung hat das von ihrer Tagesordnung gestrichen. Das war ein Fehler. Eine militärische Operation ohne eine politische Perspektive wäre eine verpasste Chance. Hoffentlich bringen wir unsere militärische Operation mit der Neutralisierung der militärischen Gefahr durch Hamas erfolgreich zu Ende. Und dann stellen wir die Frage: Was passiert am Tag danach? Und hoffentlich werden uns die USA, Deutschland, die Europäische Union dabei helfen. Es wird eine sehr schwierige Aufgabe. Wird der Westen dazu in der Lage seien, wenn gleichzeitig Russland Krieg gegen die Ukraine führt. Wird es genug Ressourcen geben, Gaza und den Rest zu stabilisieren?
Sie haben einmal gesagt, Deutschland wird immer bestehen, aber Israel muss dafür kämpfen, dass es nach seinem 75-jährigen Bestehen auch 100 Jahre alt und älter wird. Was hat der 7. Oktober verändert?
Wir erleben eine Sternstunde der Zivilgesellschaft. Die israelische Gesellschaft zeigt gegenwärtig, dass sie nirgendwo anders leben kann und will als in Israel. Weder Hamas noch Hisbollah werden uns auslöschen.