Berlin – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht in der von ihm vorgeschlagenen „Pflichtzeit“ eine Chance, die wachsende soziale Distanz in der deutschen Gesellschaft zu überbrücken. Sorge, dass sein Vorstoß im Sand verlaufen könnte, hat er nicht.
Herr Bundespräsident, Ihr Vorstoß für eine Pflichtzeit ist umgehend auf Ablehnung gestoßen - auch in der Bundesregierung. Waren Sie enttäuscht über die teils brüske Zurückweisung?
Frank-Walter Steinmeier: In einer Demokratie müssen nicht alle einer Meinung sein. Im Gegenteil, Demokratie lebt davon, dass wir Ideen und Argumente austauschen. Ich habe mich gefreut, dass meine Anregung, über eine soziale Pflichtzeit für Frauen und Männer nachzudenken und zu debattieren, so breit aufgenommen worden ist. Es hat mich nicht verwundert, dass nicht alle sofort zugestimmt haben.Ich habe die Debatte so wahrgenommen, dass nach einigen spontanen Reaktionen ein erfreulich differenziertes Abwägen von Argumenten begonnen hat. Mich haben in den letzten Wochen viele Zuschriften erreicht. Manche skeptisch, manche zustimmend. Besonders freut mich, dass sich auch ganz junge Menschen zu Wort gemeldet haben. Sie sind nicht alle einverstanden, aber bereit zu diskutieren. Viele von ihnen treten stark für eine Erweiterung der Möglichkeiten einer freiwilligen Dienstzeit ein.
Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, man wolle Sie bewusst falsch verstehen.
Es ist ja oft so, dass Debatten auch leidenschaftlich oder hitzig geführt werden. Um den kühlen Kopf zu bewahren, betone ich gerne noch einmal, dass ich bewusst von einer sozialen Pflichtzeit gesprochen habe. Meine Idee lässt viel Raum für Debatten um ihre Ausgestaltung. Mir geht es dabei vor allem darum, offen zu sein.Es muss eben kein Jahr sein, das Männer und Frauen leisten könnten für die Gesellschaft, es können auch ein paar Monate sein. Vielleicht kann man sie auch flexibel auf bestimmte Lebensabschnitte verteilen. Was mir auch wichtig ist: Die Pflichtzeit soll nicht von vornherein auf bestimmte Altersgruppen beschränkt sein. Oder auf bestimmte Einrichtungen. Womöglich könnte man eine Pflichtzeit nicht nur in sozialen Einrichtungen absolvieren, sondern auch bei der Feuerwehr, beim THW, beim Katastrophenschutz oder bei der Bundeswehr. Die denkbaren Möglichkeiten sind fast unendlich.
Ein zentrales Argument der Gegner ist: Junge Menschen mussten schon in der Pandemie so viel mitmachen, man kann ihnen jetzt nicht noch mehr zumuten und sie zwingen, ein Jahr oder ein paar Monate ihres Lebens herzugeben. Was halten Sie von diesem Argument?
Es ist doch selbstverständlich, dass jeder junge Mensch die Chance haben muss, mit seinen Talenten und Neigungen den eigenen Weg und sein persönliches Glück suchen zu können. Was ich nur möchte, ist, dass wir Ideen und Wege finden, wie wir als Gemeinschaft wieder mehr füreinander da sein können. Wer in einer Demokratie das „Ich“ sucht, muss das „Wir“ mitdenken. Und ich glaube, das „Wir“ kann eine neue Chance bekommen in einer Zeit des gemeinnützigen Tuns, in der der Respekt vor dem Leben und den bis dato unbekannten Lebensentwürfen von anderen wächst.Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen überwiegend in ihrer sozialen Bubble aufwachsen und bleiben, erst in der Schule, dann bei der Ausbildung oder im Studium. Auch im Beruf setzt sich die Distanz oftmals fort. Über die sozialen Medien, die wir so intensiv nutzen wie nie zuvor, laufen wir Gefahr, nur noch mit Gleichgesinnten und an gleichen Themen Interessierten zu kommunizieren. Die Jahre der Pandemie haben die Tendenzen noch verstärkt.Meine Sorge ist, dass durch die soziale Distanz auch die Vorurteile wachsen - zwischen Jung und Alt, zwischen Arm und Reich, zwischen den hier Geborenen und den Eingewanderten, zwischen Religionen und Kulturen. Deshalb wünsche ich mir, dass wir Möglichkeiten finden, um uns wieder über die unterschiedlichen Grenzen hinweg begegnen zu können.
Zur Person
Frank-Walter Steinmeier wurde im Februar 2017 erstmals zum Bundespräsidenten gewählt. Im Februar 2022 bestätigte ihn die Bundesversammlung für weitere fünf Jahre im Amt. Als Staatsoberhaupt ist er überparteilich. Zuvor hatte der 66-Jährige in der SPD Karriere gemacht. Unter anderem war er Kanzleramtschef, Außenminister und Vizekanzler.
Könnte es eine Alternative sein, bei der Freiwilligkeit zu bleiben, aber die Anreize für einen freiwilligen Dienst zu erhöhen - etwa über die Anerkennung von Rentenpunkten?
Wir führen die Debatte über den Dienst an der Gesellschaft nicht zum ersten Mal. Und ich freue mich sehr, dass es so viele Freiwillige gibt, die sich engagieren. Eine Frage ist aber, wie wir die erreichen, die sich aus den verschiedensten Gründen nicht engagieren wollen oder können, die in ihren Milieus verbleiben. Unsere Gesellschaft aber lebt doch davon, dass sich die vielen Bubbles - soziale, politische, kulturelle - vermischen können. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass es dafür einen Anstoß braucht, und das könnte die soziale Pflichtzeit sein, bei der alle mitmachen.
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Sie wollten eine Debatte über dieses Thema anstoßen, was sicherlich gelungen ist. Was sollte jetzt geschehen, damit diese Debatte nicht im Sand verläuft?
Mir ist nicht bang, dass die Debatte im Sande verlaufen könnte. Viele Menschen sind jetzt im wohlverdienten Urlaub, verbringen die Zeit mit Freunden und Familien. Wir wissen nicht genau, was uns im Herbst erwartet, aber sicher ist doch, dass sich die Frage, wie wir wieder zu mehr Gemeinsinn kommen, im Herbst in aller Dringlichkeit stellen wird.Unser Land steht vor so großen Herausforderungen - sehen Sie nur den Krieg in der Ukraine, den Klimawandel, die sichere und bezahlbare Versorgung mit Energie und Lebensmitteln. Wir werden daher alle gemeinsam überlegen müssen, wie wir künftig als Gesellschaft zusammen leben wollen. Ich bin sicher, wir werden dabei auch über Möglichkeiten und Chancen der sozialen Pflichtzeit debattieren.(dpa)