Der Täter des Anschlags von Magdeburg war spätestens 2015 auch den zuständigen Bundesbehörden als potenziell Verdächtiger bekannt. Warum wurde nichts unternommen?
Taqqiya, „Allahu Akbar“-Ruf?Wirre Theorien über mutmaßlichen Attentäter Taleb A. – haben Behörden versagt?
Was trieb Taleb A.? Die Behörden kommen einer Antwort langsam näher. Laut Informationen aus Sicherheitskreisen, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegen, verdichten sich die Hinweise auf eine gravierende psychische Erkrankung des Täters von Magdeburg. Damit werde es unwahrscheinlicher, dass der Generalbundesanwalt in Karlsruhe die Ermittlungen zu der Todesfahrt über den Weihnachtsmarkt übernimmt. Der Generalbundesanwalt ist zuständig für Verfahren im Bereich des Staatsschutzes, also der politisch motivierten Kriminalität.
Der Täter des Anschlags auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt war spätestens Anfang 2015 auch den zuständigen Bundesbehörden als potenziell Verdächtiger bekannt. Wie das Innenministerium in Schwerin auf Anfrage mitteilte, informierten Vertreter des Landes Mecklenburg-Vorpommern im von Bund und Ländern getragenen Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum das Bundeskriminalamt am 6. Februar 2015 über mögliche Anschlagsabsichten des aus Saudi-Arabien stammenden Mannes.
Anlass für die Meldung seien dessen Drohungen gegenüber der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern im April 2013 und ein Jahr später auch gegen eine Kommunalbehörde in Stralsund gewesen, Handlungen vorzunehmen, die internationale Beachtung fänden.
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Taleb A. nach Drohungen nicht als Gefährder eingestuft
Nach Angaben von Innenminister Christian Pegel (SPD) lebte der heute 50-Jährige von 2011 bis Anfang 2016 in Mecklenburg-Vorpommern und absolvierte in Stralsund Teile seiner Facharzt-Ausbildung. Mit der Landesärztekammer habe es Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen gegeben. Gegenüber der Sozialbehörde in Stralsund habe er versucht, mit Drohungen die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt durchzusetzen.
Laut Pegel hatte das Amtsgericht Rostock Taleb A. wegen der Drohungen gegenüber der Ärztekammer zu einer Geldstrafe verurteilt. Die vorhergehenden Ermittlungen hätten jedoch keine Hinweise auf reelle Anschlagsvorbereitungen ergeben und auch keine islamistischen Bezüge offenbart. Nach dem Vorfall in Stralsund sei der Mann im Rahmen einer sogenannten Gefährderansprache von der Polizei auf Konsequenzen hingewiesen worden. Ihm sei gesagt worden, dass man einen sehr viel genaueren Blick auf ihn haben werde. Als Gefährder sei der Mann aber nicht eingestuft worden, sagte Pegel.
Anschlag in Magdeburg: Taleb A. hatte Kontakt nach Köln
In Videobeiträgen, die Taleb A. auf der Plattform X teilte, hatte der saudische Arzt schwere Vorwürfe gegen deutsche Behörden erhoben, darunter auch die Staatsanwaltschaft in Köln. Mehrmals ist in den Videos ein Schriftstück der Kölner Behörde zu sehen. Taleb A. erwähnt dabei auch einen in Köln ansässigen Verein, der in der Flüchtlingshilfe aktiv sein soll.
Der mutmaßliche Attentäter hatte nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ tatsächlich im vergangenen Jahr schriftlichen Kontakt mit der Staatsanwaltschaft in Köln. Im Februar 2023 soll Taleb A. demnach den Verein angezeigt haben.
Von Mitte Mai 2009 bis Ende Februar 2010 hielt sich Taleb A. nach Informationen des Failienministeriums auch für einige Zeit in NRW auf. Zunächst lebte er in Düsseldorf und dann in Bochum. In dieser Zeit war zunächst die Ausländerbehörde der Stadt Düsseldorf für den Mann zuständig, im Juli 2009 wechselte die Zuständigkeit zur Ausländerbehörde der Stadt Bochum. Danach hat er sich offenbar nicht mehr in Nordrhein-Westfalen aufgehalten.
Terrorexperte Neumann fordert Umdenken über Attentäter-Stufen
In Deutschland werde über Terroristen in allzu starren Kategorien gedacht, kritisiert der Londoner Terrorismusforscher Peter R. Neumann. In Kategorien wie „Rechtsextremist, Linksextremist, Islamist“ passten Menschen wie Taleb A. kaum hinein, sagte Neumann Spiegel Online.
Nach bisherigem Wissensstand habe sich der Täter „seine eigene verschwörungstheoretische und von außen schwer nachvollziehbare Ideologie zusammengebastelt“, fügte der Experte hinzu. Eine solche Kombination „aus Wahnvorstellungen und ideologischem Extremismus“ werde häufiger; in Großbritannien gebe es dafür bereits eine eigene Täter-Kategorie.
Video von deutsch-iranischer Aktivistin wird auf X millionenfach aufgerufen
Einige Ex-Muslime, islamkritische und islamfeindliche Aktivisten verbreiten unterdessen die Behauptung, Taleb A. sei kein ex-muslimischer Atheist mit Sympathien für Rechte und Rechtsextreme gewesen, sondern ein Islamist, der seine Religiosität aus taktischen Gründen versteckt und verleugnet habe. Ein englischsprachiges Video der deutsch-iranischen Aktivistin Maral Salmassi wurde auf X mehr als 34 Millionen mal angezeigt und über 38.000 mal geteilt – unter anderem von Elon Musk. Darin behauptet sie, Taleb A.s Identität als radikaler Schiit sei offenkundig, und er habe „Taqqiya“ betrieben, ein islamisches Konzept, das es Muslimen erlaube, über ihren Glauben zu lügen.
Diese Erzählung sei „eine reine Verschwörungstheorie“, sagte der Islamismusexperte Eren Güvercin dem RND. „Im schiitischen Islam wird unter ‚Taqqiya‘ verstanden, seine religiöse Identität zu verheimlichen und die religiöse Praxis abzulegen, wenn das notwendig ist, um das eigene Leben zu schützen“, erklärte er. „Das gilt in Ausnahmesituationen, in bedrohlichen Lagen. Das hat aber nichts mit dem zu tun, was manche dem Attentäter von Magdeburg nun vorwerfen: Sich als angeblicher Islamist als Atheist und Ex-Muslim auszugeben, um dann einen islamistischen Anschlag zu begehen.“
Die Erzählung von Taleb A. als vermeintlichem Islamisten zirkuliert auch in rechten und rechtsextremen Kreisen sehr rege. Als Beleg dafür wird unter anderem ein Ausschnitt aus einem Video verbreitet, das die Festnahme des Täters direkt nach der Todesfahrt auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt zeigt. Darin sei angeblich zu hören, dass Taleb A. die Worte „Allahu Akbar“ (arabisch für „Gott ist groß“) rufe. Tatsächlich ist an der besagten Stelle jedoch zu hören, wie offenbar unbeteiligte Passanten „ein Terrorist“ rufen und den Täter als „Hurensohn“ beschimpfen.
Anschlag von Magdeburg: Zahl der Verletzten offenbar gestiegen
Nach dem Anschlag von Magdeburg hat sich die Zahl der Verletzten Informationen der Staatsanwaltschaft zufolge erhöht. Sie liege nun bei bis zu 235, sagte ein Sprecher in Magdeburg. Es hätten sich noch Menschen in der Uniklinik und bei Ärzten gemeldet. Nicht auszuschließen sei aber, dass es Doppelzählungen gegeben habe. Bislang war von 200 Verletzten ausgegangen worden.
Die Zahl der Todesopfer liege weiter bei fünf, hieß es. Bei dem Anschlag kam ein neunjähriger Junge ums Leben sowie vier Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren.
Der Täter Taleb A. war am Freitagabend mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt von Magdeburg gerast. Der Arzt aus Bernburg südlich von Magdeburg stammt aus Saudi-Arabien, lebt seit 2006 in Deutschland und erhielt 2016 Asyl als politisch Verfolgter. Er war in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen aufgefallen. Er sitzt in Untersuchungshaft. (mit RND, dpa und kna)