Terrorforscher Peter R. Neumann glaubt, dass Benjamin Netanjahu dem Druck Joe Bidens nicht mehr lange standhalten kann.
USA erhöhen Druck auf Netanjahu„Israel fehlt eine Exit-Strategie für diesen Krieg“
„Die Kinder waren traumatisiert, als sie hier ankamen“, sagt Steven Fishman aus Jerusalem dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Mehr als 20 geflüchtete Israelis aus Städten nahe dem Gazastreifen hat er nach dem Überfall der Hamas aufgenommen. „Sie saßen den ganzen Tag im Bunker, konnten nicht auf Toilette gehen, nicht duschen, nichts essen, weil immer Bomben fielen. Erst hier waren sie sicher“, berichtet er.
Besonders das unaufhörliche Geheul der Sirenen habe sich in ihren Köpfen festgesetzt. Die Räume seines Hauses gehörten früher zu einer psychiatrischen Klinik, ehe sie zu Airbnb-Wohnungen umgebaut wurden. Als die Hamas angriff, war Feiertag und die Zimmer standen leer. Fishman trieb Spendengelder auf, vermittelte Psychologen, besorgte Essen und Kleidung für die Geflüchteten. „Viele waren nur mit ein paar Einkaufstaschen geflohen.“
Mehr als fünf Wochen ist es nun her, dass die Terroristen der Hamas in Israel einfielen. Der Schock sitze noch immer tief, sagt Fishman, und die Kämpfe halten weiter an. Erst an diesem Dienstag feuerte die Hamas erneut Raketen aus dem Gazastreifen auf Aschkelon und Eilat und verletzte mehrere Menschen, wie die israelische Armee (IDF) mitteilte.
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Al-Schifa-Krankenhaus mit Soldaten und Panzern umstellt
Unterdessen rückt die Armee im Gazastreifen weiter vor und hat das Al-Schifa-Krankenhaus mit Soldaten und Panzern umstellt. Die Zustände sind katastrophal: Weil es keinen Strom gibt, sollen laut dem Klinikdirektor mehr als 175 Menschen gestorben sein. „Wir waren gezwungen, sie in einem Massengrab zu beerdigen“, sagte er dem Sender Al-Arabiya. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. Nahe der Klinik kommt es immer wieder zu heftigen Kämpfen. Israels Militär zufolge befindet sich unter dem Gebäude ein Kommandozentrum der Hamas. Soldaten fanden zahlreiche Waffen der Terroristen unter einer Kinderklinik. Es gebe auch Hinweise, dass im Keller eines weiteren Krankenhauses Geiseln festgehalten wurden, sagte Militärsprecher Daniel Hagari.
Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, erhöhen angesichts der dramatischen Lage der Krankenhäuser den Druck auf die israelische Regierung. Die Kliniken im Gazastreifen „müssen geschützt werden“, forderte Präsident Joe Biden ungewohnt deutlich. „Hinter verschlossenen Türen dürfte die Kritik noch schärfer ausfallen“, sagt Politologe und Terrorforscher Peter R. Neumann vom King‘s College London dem RND. „Die Amerikaner stehen der israelischen Kriegsführung zunehmend kritisch gegenüber.“
Amerikanischer Druck auf Israel wächst
Anders als Israel würden die USA erkennen, dass in vielen westlichen Ländern das Leiden der Palästinenser viel mehr im Vordergrund stehe als der Terrorismus der Hamas. „Netanjahu wird diesem Druck nicht mehr lange standhalten können“, sagt Neumann. Er glaubt, dass Israel die mediale Aufmerksamkeit und Dokumentation des Krieges unterschätzt, und verweist auf die grausamen Bilder und Videos, die um die Welt gehen. „Aber ich bezweifle, dass die Israelis im Gazastreifen Schlimmeres anrichten als etwa die Amerikaner im Irak oder in Afghanistan.“
Nach UN-Angaben sollen in den vergangenen zehn Tagen weitere 200.000 Menschen aus dem Norden in den Süden des Gazastreifens geflohen sein. Die Notunterkünfte der UN sind überfüllt, es mangelt an Trinkwasser, Strom und Nahrungsmitteln. Kälte und Regen verschärfen die Lage der Menschen, viele Zelte sind Berichten zufolge eingestürzt. Hinzu kommt: Wenn die IDF den gesamten Gazastreifen von Hamas-Terroristen säubern will, muss sie die Kämpfe auf den Süden ausweiten. „Es fehlt ein Plan, was mit den Menschen im Süden des Gazastreifens geschehen soll“, sagt Experte Neumann. Israels rechtsextremer Finanzminister forderte am Dienstag eine „freiwillige Abwanderung“ der Gaza-Bewohner in Nachbarländer. Doch Ägypten und andere Staaten lehnen dies vehement ab.
Amnesty International: Kriegsverbrechen auf beiden Seiten
Am Vorgehen Israels in Gaza übt Amnesty International Deutschland scharfe Kritik. „Die vollständige Abriegelung des Gazastreifens stellt eine kollektive Bestrafung dar, was einem Kriegsverbrechen gleichkommt“, sagt Amnesty-Expertin Katja Müller-Fahlbusch dem RND. Es komme zu schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch alle Konfliktparteien. Man habe unrechtmäßige Luftangriffe der IDF dokumentiert, die als mögliche Kriegsverbrechen untersucht werden müssten. Der andauernde wahllose Raketenbeschuss auf Israel und die Geiselnahme von mehr als 200 Menschen durch die Hamas seien ebenfalls Kriegsverbrechen. Amnesty fordert einen Waffenstillstand, damit Hilfsorganisationen lebensnotwendige Güter, Wasser und medizinische Versorgung in den Gazastreifen bringen können.
Offen ist, wann Israel sein Ziel im Gazastreifen erfüllt sieht und sich zurückzieht. „Die Gefahr ist groß, dass wir auf einen scheinbar endlosen Krieg zusteuern, weil sich die Hamas immer irgendwo verstecken kann“, sagt Neumann. „Israel fehlt eine Exit-Strategie für diesen Krieg.“ Er sieht Ähnlichkeiten zum Krieg gegen den Terror der USA, bei dem die Amerikaner ihr Ziel immer wieder verändert hatten. „Die Amerikaner blieben in Afghanistan, weil sie sich nicht eingestehen konnten, diesen Konflikt verloren zu haben“, sagt Neumann. Weil die Hamas sehr eng mit der Gesellschaft im Gazastreifen verwoben ist, wird sie sich wohl nicht vollständig zerstören lassen. Dann könnte Israel den Fehler der USA wiederholen.