Der Theologe Michael Seewald, Nachnachfolger Joseph Ratzingers auf dem Lehrstuhl für Dogmatik an der Universität Münster, spricht über Größe und Grenzen des Gelehrten und Papstes.
Tod Benedikts XVI.„Es wird gerade an einer Legende gebastelt“
Herr Professor Seewald, alle Nachrufe auf den früheren Papst Benedikt XVI. rühmen den Verstorbenen als „großen Theologen“. Was macht seine Größe aus?
Joseph Ratzinger war einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Darüber sind sich seine Freunde wie seine Gegner einig. Die Größe des jungen Ratzinger lag vor allem in seinem Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil, das von 1962 bis 1965 stattfand. In der ersten Sitzungsperiode war er Berater des Kölner Kardinals Josef Frings. Ab der zweiten Sitzungsperiode rückte er im Herbst 1963 zum „Peritus“ auf, zum theologischen Fachberater des gesamten Konzils.
Das war auch die Zeit, als er in Münster Ihr Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Dogmatik wurde.
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Ratzinger kam im Frühjahr 1963 nach Münster. In Bonn, wo er vorher war, hatte er noch Fundamentaltheologie gelehrt. In Münster bekam er dann seinen ersten Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte. Besonders über die Frage, wie man als Katholik Dogmengeschichte betreiben könne, hat er sich in seiner Münsteraner Zeit Gedanken gemacht. Die Disziplin der Dogmengeschichte war traditionellerweise stark evangelisch geprägt. Ratzingers These lautete, dass das Wesen der Dogmengeschichte immer in „Identität und Verwandlung“ zugleich bestehe. „Die bloße Identität des Sich-Gleichbleibenden“ sei der Geschichte des christlichen Glaubens fremd.
Und was bedeutet das?
Ratzinger problematisierte die Vorstellung, dass es sich bei der Lehre der Kirche um etwas immer gleich Bleibendes handele. Genau darauf hat er später allerdings beharrt. Der junge Ratzinger hat Begriffe wie Dogma, Tradition oder Offenbarung dynamisiert. Deshalb war sein Einfluss auf die Theologie der Offenbarung, wie das Zweite Vatikanische Konzil sie in den Blick nahm, auch beträchtlich.
Worum ging es da?
Um die Frage, wie Gott sich den Menschen mitteilt. Schon in seiner Habilitationsschrift über den mittelalterlichen Theologen Bonaventura lenkte Ratzinger den Fokus – vereinfacht gesagt – vom „sprechenden Gott“ stärker zum hörenden Subjekt hin, sei es zum hörenden Menschen oder zur hörenden Kirche. Ratzinger hat sich weniger dafür interessiert, welche einzelnen Satz-Wahrheiten Gott angeblich den biblischen Autoren mitgeteilt habe. Er widmete sich vielmehr den Bedingungen des Hörens.
Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit führte ihn auch zu einem erneuerten Verständnis der Tradition. Tradition ist für den jungen Ratzinger kein festgefügter Bestand an Lehrsätzen, sondern vielmehr die „fortgehende Aneignung“ des christlichen Glaubens durch die Kirche, eine Aneignung, die zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Weise erfolgen müsse. Das Ringen der Kirche um die Frage, wie sie den Glauben in ihrer jeweiligen Zeit auszudrücken habe – das sei traditionsstiftend. Der frühe Ratzinger hat sich damit von der päpstlich bevorzugten Position seiner Zeit massiv abgesetzt.
Mit welchen Folgen?
Mit widersprüchlichen Folgen. Ratzingers Arbeiten am Offenbarungs- und Traditionsbegriff eröffneten einen breiten Spielraum, den die Kirche für Reformen hätte nutzen können. Andererseits schreit diese Weite förmlich nach neuerlicher Eingrenzung und Regulierung. Joseph Ratzinger und erst recht Benedikt XVI. haben sich im Lauf der Jahre immer weiter auf die Seite derer geschlagen, die meinen: Dass Offenbarung sich durch ein stets neues Hinhören ereignet, ist ja schön und gut – aber irgendjemand muss doch feststellen, was eigentlich von Gott gesagt wurde. Und dieser „Jemand“ soll dann das kirchliche Amt sein, vor allem der Papst.
Dann gibt es also gar keinen Bruch zwischen dem frühen und dem späten Ratzinger, sondern nur eine Verlagerung von einem Denkmodus der Weite zum Modus der Einengung und Reglementierung?
Auf der kirchenpolitischen Oberfläche sind zweifellos Brüche in Ratzingers Denken festzustellen. Zum Beispiel hat er 1970 ein Memorandum unterzeichnet, das den damaligen Papst Paul VI. für sein Festhalten am Pflichtzölibat der Priester massiv kritisierte und die Möglichkeit verheirateter Priester ins Spiel brachte. Davon wollte Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation und später dann als Papst nichts mehr wissen. Trotzdem ist er sich auf einer – wenn man so will – fundamentaltheologischen Ebene treu geblieben, vor allem mit seinem weiten Offenbarungsbegriff.
Die Tragik dieses Mannes besteht darin, dass viele seiner heutigen Verehrer ihm applaudieren, weil sie seine kirchenpolitischen Schlussfolgerungen gut finden. Einen wirklichen Zugang zu Ratzingers Theologie in ihrer ganzen Weite haben viele derjenigen jedoch nicht, die sich jetzt seine „neuen Schüler“ nennen, obwohl sie mit dem Professor Joseph Ratzinger als akademischem Lehrer nie etwas zu tun hatten.
Immer wieder ist von Ratzinger als „Mozart der Theologie“ die Rede. Gibt es Anlass für diesen Vergleich mit einem Unvergleichlichen?
Mir sagt so ein Vergleich wenig. Vielleicht gibt es ja Parallelen zwischen dem Oberpriester Sarastro in der „Zauberflöte“ und dem Pontifex Maximus, der Benedikt XVI. für einige Jahr war. Nein, aber im Ernst: Die Erfinder dieses Vergleichs spielen vermutlich auf Ratzingers Schreibstil an. Ein einigermaßen versierter Leser erkennt einen Ratzinger-Text sofort. Seine Reden und Schriften sind von diesem ganz eigenen Ratzinger-Sound durchzogen.
Wie lässt sich dieser Sound charakterisieren?
Er ist leicht, eingängig, bisweilen fast suggestiv. Seine Studierenden, so erzählen Zeitzeugen, hingen an den Lippen ihres jungen Professors. Sein Buch „Einführung in das Christentum“ war auch deshalb ein solcher Erfolg, weil es Theologie verständlich und schön darstellte.
Das ist nicht das Schlechteste, was man von theologischer Literatur sagen kann.
In der Tat. Ratzingers stilistisches Können war außerordentlich. Das Problem ist nur, dass er manchmal wohlklingend über offene Fragen hinwegformulierte. Ratzinger war vor allem ein Meister des Aufsatzes, also der kleinen, fast essayistischen Form. Als Leser versteht man sofort das Problem, um das es ihm geht. Man bekommt auch schön formulierte Lösungen geboten, bemerkt aber manchmal die darunter liegenden Untiefen oder Abgründe nicht mehr. Die Konsequenzen von Ratzingers blumigen Ausführungen konnten oft dornig und schroff sein.
Etwa wenn er als Präfekt der Glaubenskongregation Theologen maßregelte oder moralische Verbote einschärfte. Wie ging das eigentlich: vom Theologieprofessor und Kollegen zum Glaubenswächter und Zensor der Theologie?
Joseph Ratzinger hatte als Präfekt der Glaubenskongregation und in seiner Zeit als Papst immer eine Doppelrolle. Er verfasste offizielle Lehrschreiben der Kirche, publizierte aber auch weiterhin als Privatgelehrter. Seine Bücher über Jesus sind zum Beispiel während seines Pontifikats erschienen.
Zum theologischen Arbeiten gehört nun ganz wesentlich das Kritisieren wie auch das Kritisiert werden.
Genau darin lag das Problem. Ratzinger konnte als Präfekt der Glaubenskongregation hart austeilen. Er hat Kritik an lehramtlichen Texten, etwa im Umfeld des Neins zur Priesterweihe von Frauen, auch als private theologische Dispute fortgeführt. Katholische Zeitschriften publizierten, wenn er darin etwas gelesen hatte, was ihm missfiel, „Stellungnahmen“ von Joseph Ratzinger. Diese Stellungnahmen haben dann die offizielle, lehramtliche Position noch einmal eingeschärft. Aber wer war nun der Autor oder gar die Autorität hinter solchen Texten? Der Privatgelehrte Joseph Ratzinger? Oder der Präfekt der Glaubenskongregation? Das wusste man manchmal nicht so genau.
Als ein großes Thema Joseph Ratzingers gilt die Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft. Wie steht es darum aus Ihrer Sicht?
Als Theologe und als Papst hat er die Vernunft immer hochgehalten. Das ist ein großes Verdienst. Wenn man genau hinschaut, bleibt aber oft unklar, was er unter Vernunft genau versteht. Der Verweis auf die Vernunft hatte etwas Emphatisches. Am Ende drängt sich aber der Eindruck auf, dass die Vernunft für Joseph Ratzinger doch eine Art Unterfunktion des Glaubens gewesen sein könnte. Mir ist in seinem Werk jedenfalls keine Stelle aufgefallen, wo die Vernunft sich dazu hätte aufschwingen dürfen, bestimmte Zustände in der Kirche oder gar die Lehre der Kirche zu kritisieren. Glaube und Vernunft waren für ihn immer in einem harmonischen Verhältnis, dessen Regeln aber von der Lehre – und das heißt auch: dem Lehramt – der Kirche bestimmt wurden.
Und seine Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Denken?
Bei Ratzingers Verhältnis zu anderen Denkern muss man zwei Gruppen unterscheiden: seine großen theologischen Gewährsleute und die Fachliteratur, die er zu Rate gezogen und verarbeitet hat. Letztere stammt wesentlich aus den 1950er bis 1970er Jahren. Seine Theologie ist stark in den Diskussionen dieser Epoche verhaftet. Das kann man ihm nicht vorwerfen, denn es war „seine“ große Zeit und macht seine Theologie zu einem bedeutenden Stück theologischer Zeitgeschichte. Interessant ist, dass die einzigen Theologen, die im „Geistlichen Testament“ Benedikts XVI. vorkommen, das an seinem Todestag veröffentlicht wurde, drei Protestanten sind, an denen er sich in seinen jungen Jahren abgearbeitet hatte: Adolf von Harnack, Adolf Jülicher und Rudolf Bultmann. Aus heutiger Sicht sind diese drei Herren Gegenstand der Theologiegeschichte. Für Benedikt XVI. waren sie das offenbar noch nicht.
Und wer sind nun seine „Gewährsleute“?
Ratzingers eigentliche Sparring-Partner sind antike und mittelalterliche Autoren, allen voran Augustinus. Zu diesem Bischof der Spätantike hatte er einen ganz anderen Zugang als etwa zu den Denkern der Neuzeit.
Wie anders?
Man kann Joseph Ratzinger nicht vorwerfen, dass er sich nicht mit der Neuzeit auseinandergesetzt hätte. Aber er nahm ihr gegenüber eine – wenn nicht durchgehend ablehnende, so doch zumindest – abwehrende Haltung ein. Er nahm das neuzeitliche Denken vorwiegend als Angriff auf den Glauben wahr. Diese Tendenz mag für einige moderne Denker zutreffend sein, aber längst nicht für alle. Doch Ratzinger geriet in eine dauernde Verteidigungshaltung. Der junge Ratzinger war noch nicht so stark in der Defensive. Er konnte auch antike Autoren - wie den besagten Augustinus - für die Gegenwart zum Leuchten bringen.
Wenn man einen Mann wie den Ratzinger-Biografen Peter Seewald hört, dann entstammen negative Urteile über den Verstorbenen einem aus Unkenntnis oder bösem Willen entstandenen Zerrbild oder dem Neid der Minderbemittelten. Wo ordnen Sie sich da ein?
Das Umfeld Benedikts XVI. reagierte auf Kritik an ihm oft dünnhäutig. Es wird gerade an der Legende eines verkannten und von seinen Kritikern böswillig missverstandenen Kirchenlehrers gebastelt, der den Stürmen der Zeit getrotzt habe und deshalb umso heftiger von jenen, die dem Zeitgeist verfallen seien, angegriffen werde. Wenn ein Mensch stirbt, stehen seine Verdienste im Vordergrund. Das ist auch jetzt bei Benedikt XVI. so. Die öffentliche Meinung bleibt pietätvoll, und auch seine Kritiker zeigen Stil, indem sie sich zurückhalten. Langfristig wird das Werk eines Denkers jedoch dadurch gewürdigt, dass man es kritisiert und somit zeigt, dass man ihn ernst nimmt. Das wird auch so sein bei Joseph Ratzinger, dem Theologen, und Benedikt XVI., dem Papst.