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Streit unter GeschwisternWarum wir so oft in alte Kindheitsrollen verfallen

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Fingers art of couple celebrates Christmas. Concept of man and woman during quarrel in New Year., Fingers art of couple celebrates Christmas. Concept of man and woman during quarrel in New Year. Couple after an argument looking in different directions

Es kommt in der Geschwisterbeziehung auf viele andere Faktoren an. Manchmal passen sie nicht zusammen.

Beziehungen zu den Geschwistern sind die längsten unseres Lebens – oft aber auch die kompliziertesten. Die Journalistin und Schwester Ursula Ott erklärt, wie man selbst aus verfahrensten Situationen ausbrechen kann.

Gewundert hat es mich nicht, genervt schon. Anfang Oktober bekam ich einen Anruf meiner alten Mutter: der Plan für Weihnachten stehe, meine große Schwester Biggi habe ihr soeben einen Zettel auf den Tisch gelegt. Heiligabend 18 Uhr Fleischfondue, 23 Uhr Christmette, erster Feiertag Ruhetag, zweiter Feiertag Bescherung mit Rehrücken, zwei Flaschen Primitivo. Die Spätzle und den Nachtisch, so stand da mit rotem Filzer, solle bitte meine Mutter mit mir zusammen organisieren.

Im Oktober! Meine Schwester ist eine perfekte Planerin, war sie immer. Sie hatte schon in der Grundschule das Rechenheft in rot und das Schreibheft in blau eingeschlagen, während bei mir meist die Eselsohren und überbordender Einsatz von Tintenkiller jede Ordnung zerstörten. Typisch älteste Schwester. Die Geschwisterforschung hat sich jahrelang auf diese Rangfolgen konzentriert: Die Erstgeborenen gewissenhaft und perfektionistisch, die Nesthäkchen chaotisch, aber charmant. Die Erstgeborenen, behauptete der amerikanische Psychologe Kevin Leman, erkenne er in einer Gruppe von Menschen sofort: „Jedes Haar liegt exakt, die Kleidung ist farblich abgestimmt“. Ich ergänze: jeder Teller steht exakt, jede Serviette ist farblich abgestimmt.

Es kommt in der Geschwisterbeziehung auch auf viele andere Faktoren an: wie groß ist der Abstand, sind es zwei Mädchen oder zwei Jungs, wer ist größer, schöner, gesünder, lauter…

Aber dieses Jahr an Weihnachten können Biggi und ich darüber auch lachen. Denn seit ein paar Wochen begleitet sie mich zu Lesungen aus meinem Geschwisterbuch, für das ich Psychologen und Juristinnen befragt habe – und sehr viele Schwestern und Brüder. Und immer wenn ich die Stelle mit den perfekten Frisuren vorlese, wird zwar gelacht. Haha, die neben mir, bestimmt ein Nesthäkchen, so verkrumpfelt wie die Strumpfhose aussieht. Aber es wird auch erleichtert aufgeatmet, wenn ich den Geschwisterforscher Jürg Frick zitiere, den ich in Zürich interviewt habe und der im Moment den besten Überblick über die Forschung hat. Ja, sagt der Schweizer, Rangfolge ist wichtig, aber nicht alles. Man habe seit Leman – dessen schlichten Theorien sind schon 20 Jahre alt – ein bisschen dazu gelernt. Es kommt in der Geschwisterbeziehung auch auf viele andere Faktoren an: wie groß ist der Abstand, sind es zwei Mädchen oder zwei Jungs, wer ist größer, schöner, gesünder, lauter…

Aber keine Frage: Die Geschwisterbeziehung ist die längste in unserem Leben, und sie prägt uns tief. Wenn wir im späteren Leben mit unseren Geschwistern streiten – um die Pflege der Mutter, ums Erbe des Vaters – fallen wir oft in Kindheitsrollen zurück. „Buddelkasten-Syndrom“ nennt das die Kölner Anwältin und Mediatorin Katharina Mosel – die Streithansel sind 55 oder 65, hauen aber mit dem Schäufelchen, als wären sie fünf. Über 90 Prozent der Erbfälle, mit denen sie zu tun hat, spielen unter Geschwistern. Mosel vertritt auch Männer und Frauen bei Scheidungen. Sie sagt: „Ehekrach trifft die Menschen ins Herz. Geschwisterstreit dagegen mitten in den Bauch.“

Der Vater hatte immer nach Feierabend den Kindern um 17 Uhr ein Milky Way spendiert. Nur der Tochter nicht.

Wie der Fall einer Kölner Handwerksfamilie. Der Vater war gestorben, drei Brüder und eine Schwester stritten um die Firmennachfolge. Die Schwester stellte sich lange einer Einigung entgegen, bis sie bei einer Mediationssitzung erzählte: Der Vater hatte immer nach Feierabend den Kindern um 17 Uhr ein Milky Way spendiert. Nur der Tochter nicht. Jetzt, 50 Jahre später im Besprechungsraum der Anwältin, stampfte die Tochter quasi mit den Füßen auf. Jetzt gehe es mal nach ihrer Pfeife. Alte Rechnungen, alte Rollen. Das sind die typischen Konflikte unter erwachsenen Geschwistern. Die gute Nachricht: Man kann sich daraus befreien. Wenn die Jüngste immer noch – wie mit süßen sieben Jahren – die Augen groß aufschlägt und wartet, bis die Großen alles erledigen, dann dürfen die Großen auch mal sagen: Hallo, du bist jetzt 50. Pack mit an!

An Weihnachten kann man das üben. Ich habe eine Kölner Freundin, die jeden Samstag nach Remscheid ins Betreute Wohnen zu ihrer Mutter fährt, sich um Pflegestufe und Hausärztin, um Friseur und Weihnachtsgeschenke für die Altenpflegerinnen kümmert. Pünktlich zu Heiligabend fliegt der Bruder aus Berlin ein. Er kommt immer zu spät, das war schon als Kind so. Er weiß vieles besser – neulich hatte er die gloriose Idee, gegen den Pflegenotstand in dieser Einrichtung RTL zu alarmieren. Ganz großes Kino. Am 26. ist er wieder weg, und meine Freundin sitzt da mit Krankenkassenformularen und Inkontinenzeinlagen. Ungerecht!

Was tun? Der erfahrene Familienberater Michael Bruckner aus Erftstadt rät, sich erst einmal klar zu werden: Viele Söhne sind in den 60er und 70er Jahren wirklich von den Eltern bevorzugt worden. Bruckner: „Das ist zunächst das Thema der Eltern! Es macht keinen Sinn, den Bruder dafür zu verhaften“. Der Zeitgeist war so, man kann sein Geburtsdatum nicht ändern und seine Eltern vermutlich auch nicht mehr. Aber man kann sehr wohl zum Bruder sagen. „Hallo, es ist jetzt 2024. Wir sind beide für Mama zuständig. Bitte kümmere dich künftig um die Steuer von Mama. Und hast du eine Idee, was wir der Physiotherapeutin schenken können?“

Bruckner, der über 30 Jahre die Familienberatungsstelle der Katholischen Kirche in Düsseldorf geleitet hat, hat für Weihnachten übrigens noch einen Tipp: „Nehmen Sie nicht jede Einladung an.“ Nein, er meint keine Einladung zum Glühwein, sondern Einladung zum Ausflippen. Wenn die Schwester wieder ihre Piepsstimme anwirft oder der Bruder seinen Flachwitz – kann man auch sagen: Okay, das lädt mich jetzt ein, genervt das Elternhaus vorzeitig Richtung A3 zu verlassen. Aber heute habe ich gar keine Lust auf diese Einladung, vielen Dank.

Mal sehen, wie das bei mir dieses Jahr klappt. Meine Mutter wird die bestellten Spätzle machen, keine Frage. Aber ich könnte vielleicht statt dem bestellten Nachtisch vorschlagen, dass wir zusammen rausgehen und in der Eisdiele eine Waffel essen? Mal sehen, was passiert.


chrismon Chefredakteurin Ursula Ott

Zur Person

Ursula Ott, Jahrgang 1963, lebt in Köln und hat soeben das Buch „Gezwisterliebe. Vom Streiten, Auseinandersetzen und Versöhnen“ (btb, 17 Euro) veröffentlicht.