Diplomat Rolf Nikel arbeitete für Kohl, Schröder und Merkel. In Bezug auf Russland und Wladimir Putin sieht er schwere Fehler.
Ex-Regierungsberater kritisiert Russlandpolitik„Nach dem Abendessen sank Putin dem Kanzler erleichtert in die Arme“
Der deutsche Diplomat Rolf Nikel hat die Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte scharf kritisiert. Der gelernte Politikwissenschaftler, der im Kanzleramt sowohl für Helmut Kohl (CDU), Gerhard Schröder (SPD) als auch Angela Merkel (CDU) arbeitete und von 2006 bis 2011 als stellvertretender Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik fungierte, benennt in einem Interview mit dem „Spiegel“ eine Reihe schwerer Versäumnisse und Fehleinschätzungen verschiedener Bundesregierungen.
Mehr als anderthalb Jahre nach Kriegsbeginn in der Ukraine stehe Deutschland vor dem „größten außenpolitischen Scherbenhaufen seit Gründung der Republik“, so Nikel. „Wir sind gescheitert“, urteilt er in Bezug auf die Russland-Politik. Dabei spricht der Vizepräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) von einem „systemischem Versagen“.
Deutscher Diplomat Rolf Nikel glaubt, Westen hätte Wladimir Putin durch Zurückhaltung ermutigt
Rolf Nikel fordert eine Aufarbeitung der begangenen Fehler, die er nicht nur in der Politik sieht. „Weite Kreise der deutschen Öffentlichkeit, der Medien, der Wirtschaft haben die Russlandpolitik mitgetragen“, glaubt er. Einer der größten Fehler sei gewesen, dass sich Deutschland durch die vereinbarten Energielieferungen in eine Abhängigkeit zu Russland begeben hätte.
Warum Deutschland nach der russischen Annexion der Krim und des Angriffs im Donbass 2014/15 auch noch die Pipeline Nord Stream 2 gestartet hatte, sei ihm ein Rätsel. Es hätte außerdem Wladimir Putin nur noch bestärkt, dass der Westen bei einem Feldzug gegen die Ukraine kein Hindernis sei.
„Systemisches Versagen“: Abhängigkeit von Russland in der Energiepolitik
Nikel stellt fest, dass sich die Bundesregierung nach der Minsker Abkommen 2015 nicht an der Aufrüstung der Ukraine beteiligt habe und zudem keine Anstalten gemacht habe, sich in puncto Energieversorgung von Russland zu lösen. Das habe Russlands „Kriegskasse gefüllt“.
Deutschland hätte „nicht nur die Versorgungssicherheit sträflich vernachlässigt, sondern zudem Putins Willen unterschätzt, Energie als Waffe einzusetzen“, so der Diplomat im Ruhestand. Die Verantwortung für das Versagen in der Energiepolitik sieht Nikel sowohl in Politik als auch Wirtschaft.
Schuld an verfehlter Russlandpolitik sieht Nikel nicht bei Einzelnen
Er lehnt es entschieden ab, einzelnen Regierungen oder Kanzler:innen, konkret Gerhard Schröder oder Angela Merkel, die Schuld zu geben – wenngleich „Russlandpolitik (…) immer Chefsache“ gewesen sei. „Da jetzt zu sagen, Kohl, Schröder oder Merkel trage eine größere Verantwortung als die jeweils anderen beiden, führt zu nichts. Noch mal: Es war ein systemisches Versagen, nicht nur in der Politik“, so der 69-Jährige im Spiegel-Interview.
Vor allem Gerhard Schröder war dessen Nähe zu Wladimir Putin von Kritikern immer wieder vorgeworfen worden, er habe Deutschland in die Abhängigkeit geführt, bemängelten die FAZ-Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner in ihrem Sachbuch und Bestseller „Die Moskau-Connection“. Angela Merkel wurde indes nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine vorgeworfen, der wirtschaftlichen Abhängigkeit von russischem Gas nicht entgegengewirkt zu haben.
Diplomat bemängelt Naivität in Bezug auf Wladimir Putin
„Wir waren naiv und viel zu optimistisch in unseren Annahmen“, sagt Nikel in Bezug auf die deutsche Russlandpolitik. Der Ansatz, Sicherheit sei nur mit Moskau erreichbar, sei die „wohl größte sicherheitspolitische Lebenslüge der vergangenen Jahrzehnte“.
Einen weiteren entscheidenden Fehler sieht der hochrangige Diplomat im Ruhestand darin, dass Deutschland seine Ausgaben für Verteidigung stetig heruntergeschraubt und auf ein Minimum reduziert habe. „Wir haben es versäumt, in alternativen Szenarien zu denken“, konstatiert Nikel. Mit einem Angriffskrieg habe niemand gerechnet. Die Folge laut Nikel: „Putin glaubt, der Westen sei schwach und dekadent und man müsse nur den längeren Atem haben.“
Als Wladimir Gerhard in die Arme sank: Putins erster Besuch bei Gerhard Schröder
Aufrüstung sei deswegen allein aus Kalkül entscheidend. Die Gefahr, die von Russland für die Nato-Staaten ausgehe, sei schwer zu bemessen. „Wie gehen wir jetzt damit um, dass etwa im Kaliningrader Gebiet Raketen stationiert sind, die man mit Atomsprengköpfen bestücken kann und die in fünf Minuten in Berlin sind?“, fragt Nikel.
Verständnis zeigt in für die Fehleinschätzung vieler Politikerinnen und Politiker in Bezug auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieser habe in seinen Augen einen erheblichen Wandel vollzogen, der Ende der 1990er Jahre nicht abzusehen gewesen sei. „Ich erinnere noch Putins ersten Besuch bei Schröder. Als zuständiger Referatsleiter im Kanzleramt hatte ich den Besuch vorbereitet und führte das Protokoll. Putin war so nervös, dass seine Wangenmuskeln zitterten. Nach dem Abendessen sank er dem Kanzler geradezu erleichtert in die Arme“, schildert Nikel im Spiegel. (pst)