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„Eine üble Lüge“Putin sorgt mit Verschwörungstheorie und Geschichtsklitterung für Entsetzen

Lesezeit 4 Minuten
Der russische Präsident Wladimir Putin nimmt am Dienstag, 5. September, in Moskau an einer Sitzung eines Präsidialrats teil, der sich mit Fragen der patriotischen Erziehung befasst. Im Rahmen der Sitzung äußerte Putin sich über die Ukraine.

Der russische Präsident Wladimir Putin nimmt am Dienstag, 5. September, in Moskau an einer Sitzung eines Präsidialrats teil, der sich mit Fragen der patriotischen Erziehung befasst. Im Rahmen der Sitzung äußerte Putin sich über die Ukraine.

Wladimir Putin hat sich erneut zum Krieg gegen die Ukraine geäußert. Historiker reagieren erschüttert auf die Worte des Kremlchefs.

Kremlchef Wladimir Putin hat verschwörungstheoretische und antisemitische Behauptungen über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und die Ukraine aufgestellt. Ohne jegliche Beweise vorzulegen, behauptete Putin in einem TV-Interview, westliche Drahtzieher hätten „einen Mann an die Spitze der heutigen Ukraine gesetzt, der ein ethnischer Jude ist“ und stellte Selenskyj so als Marionette dar.

Das diene dazu, um die „Verherrlichung des Nazismus“ in der Ukraine und das „anti-menschliche Wesen, das im Herzen des ukrainischen Staates liegt“ zu vertuschen, behauptete Putin gegenüber dem russischen TV-Reporter Pavel Zarubin weiter. Es sei „äußert widerlich“, dass ein „ethnischer Jude“ diejenigen decke, die den Holocaust in der Ukraine „angeführt“ hätten, erklärte Putin zudem.

Wladimir Putin versucht immer wieder den Holocaust mit der Ukraine zu verknüpfen

Der Kremlchef hatte bereits im Juni versucht, die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine mit dem von deutschen Wehrmachtstruppen begangenem Massenmord an sowjetischen Juden im Zweiten Weltkrieg in Verbindung zu bringen und ohne Beleg behauptet, viele Juden empfänden Selenskyj als „Schande“.

Zuvor hatte Außenminister Sergej Lawrow im Januar versucht, den Holocaust mit der Gegenwart zu verknüpfen, und dem Westen vorgeworfen „die Russenfrage“ so „lösen“ zu wollen, wie Adolf Hitler die „Endlösung“ für die Vernichtung jüdischen Lebens in Europa angestrebt habe.

Die Wortwahl Putins sei antisemitisch und „selbst für seine Verhältnisse abscheulich“, kommentierte der britische Historiker und Russland-Experte Ian Garner die Aussagen im sozialen Netzwerk X (vormals Twitter).

In den Worten Putins sei die „Ideologie des russischen Staates“ erkennbar, schrieb Garner: „Angreifen, entmenschlichen, zerstören“. Solang man in Russland „andere Menschen auf diese Weise“ betrachte, könne mit dem Land kein Frieden geschlossen werden, führte Garner aus.

Faschistische Ideologie in Russland: „Angreifen, entmenschlichen, zerstören“

„Russland ist ein faschistischer Staat“, kommentierte unterdessen der Kölner Politikwissenschaftler Thomas Jäger Putins Auftritt ebenfalls auf X. „Die Faschismus-Diskussion müsste zu Russland geführt werden“, hatte Jäger im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ kürzlich bereits gefordert.

In seiner Geschichtsklitterung ging Putin, der sich immer wieder als „Chefhistoriker“ Russlands inszeniert, nun sogar noch einen Schritt weiter als bisher. Deutsche SS-Truppen hätten „nicht an der Vernichtung der Juden in der Ukraine teilgenommen“, sondern „praktisch alles in die Hände lokaler Nationalisten gelegt“, behauptete Putin entgegen den bekannten historischen Fakten.

Historiker zu Aussagen von Wladimir Putin: „Natürlich eine üble Lüge“

Die Aussage Putins sei „natürlich eine üble Lüge“, erklärte Matthäus Wehowski, Historiker vom Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden. In Russland werde nun „die Geschichte des Holocaust umgeschrieben“, fügte Wehowski in einem Beitrag im sozialen Netzwerk X (vormals Twitter) an. Für die Massenvernichtung seien Deutsche verantwortlich gewesen, stellte der Historiker klar.

Mindestens 1,7 Millionen sowjetische Juden sind dem amerikanischen Historiker und Holocaust-Forscher Timothy Snyder zufolge von deutschen Truppen und ihren Kollaborateuren während des Zweiten Weltkriegs getötet worden.

Wladimir Putin wirft dem Westen das vor, was er selbst tut

Putin warf in dem TV-Interview dem Westen unterdessen genau das vor, was der Kremlchef nach Ansicht von Historikern wie Wehowski selbst tut, nämlich die „Geschichte zu verdrehen“ und sie als „Waffe des ideologischen Kampfes“ einzusetzen, um sie für die eigene „politische Agenda“ zu nutzen. Das sei auch in Europa, „wo viele Menschen ihr Gedächtnis und ihr Gewissen verloren haben“, der Fall, zitierte die russische Nachrichtenagentur RIA den russischen Präsidenten.

Putin differenzierte zudem zwischen einem „ukrainischen Volk“, das nicht Russlands Feind sei, und „Nicht-Menschen“, womit laut RIA die angeblichen Neo-Nazis in der Ukraine gemeint gewesen seien. Gleichzeitig behauptete der Kremlchef „Russophobie und Neonazismus“ seien nicht nur in der Ukraine, sondern auch im gesamten Baltikum „zur Norm geworden“, was die vorgebliche Differenzierung prompt ad absurdum führte und nahelegt, dass man in Moskau die Mehrheit der Ukraine als Feinde betrachtet.

Reaktion aus der Ukraine: „Unmöglich“ mit Wladimir Putin zu verhandeln

Wolodymyr Selenskyj reagierte bis zum Mittwochmorgen nicht auf die Aussagen des Kremlchefs. Die Aussagen Putins seien ein weiterer „zynischer Versuch, das historische Thema Holocaust als Schaufenster zu nutzen, um die modernen russischen Nazi-Praktiken zu rechtfertigen“, erklärte unterdessen Mykhailo Podolyak, Berater des ukrainischen Präsidenten, auf X.

Die Worte des Kremlchefs seien eine Bestätigung dafür, dass Putin „in seiner eigenen Welt lebt, einer künstlichen, von der Realität isolierten Blase“. Daher sei es „unmöglich“, mit ihm zu verhandeln, führte Podolyak aus. Putin sei kein „rationaler Akteur“, fügte er an, das sollte „allen Teilen der Welt“ klar sein, alles andere sei eine „Illusion“, so der Präsidentenberater. „Der Faschismus wurde in einer russischen Hülle wiederbelebt.“