Russland fahndet nun nach Estlands Premierministerin Kaja Kallas. Der estnische Geheimdienst warnt derweil vor russischen Militärplänen.
Kaja Kallas auf FahndungslisteEstland warnt vor Angriff – Putin plant Truppenaufmarsch an Nato-Grenze
Russland hat Estlands Regierungschefin Kaja Kallas wegen „feindlicher Handlungen“ zur Fahndung ausgeschrieben. Auch weitere Regierungsvertreter baltischer Staaten würden gesucht, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag in Moskau. „Dies sind Leute, die feindliche Handlungen gegen die historische Erinnerung und gegen unser Land ausführen.“
Kallas reagierte am Dienstagnachmittag auf den Schritt Moskaus, der „nicht überraschend“ komme. „Ich weiß das aus meiner Familiengeschichte. Als meine Großmutter und meine Mutter nach Sibirien deportiert wurden, erließ der KGB den Haftbefehl“, schrieb sie bei X (vormals Twitter).
Kaja Kallas: „Als meine Mutter nach Sibirien deportiert wurde, erließ der KGB den Haftbefehl“
Die Fahndung sei ein Beweis dafür, dass sie „das Richtige“ tue, so Kallas. Der Kreml setze darauf, sie mundtot zu machen, werde das jedoch nicht schaffen, versicherte die estnische Regierungschefin. Der Geheimdienst Estlands warnte unterdessen am Dienstag vor Russlands militärischen Plänen.
Zuvor war auf der Internetseite des russischen Innenministeriums ein Fahndungsvermerk für Kallas zu sehen. Demnach wird die estnische Regierungschefin in Russland wegen „einer Strafsache“ gesucht – genauere Angaben wurden zunächst nicht gemacht. Ebenfalls zur Fahndung ausgeschrieben wurden unter anderem der estnische Staatssekretär Taimar Peterkop und der litauische Kulturminister Simonas Kairys.
Russland schreibt Kaja Kallas zur Fahndung aus
Infolge der seit zwei Jahren andauernden russischen Offensive in der Ukraine sind die Beziehungen zwischen Moskau und den baltischen Staaten äußerst angespannt. Kallas ist eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie steht in Estland seit 2021 an der Spitze der Regierung.
Die baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland, die immer wieder vor weitergehenden militärischen Ambitionen des Kremls warnen, gehen davon aus, dass sie zu Sowjet-Zeiten besetzt waren. Dagegen sieht sich Moskau als „Befreier“ dieser Staaten und bezeichnet jede andere Sichtweise als „Geschichtsfälschung“, was in Russland eine Straftat ist.
Putins Ton gegenüber dem Baltikum wird rauer
Kremlchef Putin hatte zuletzt den Ton gegenüber den baltischen Staaten deutlich verschärft. So hatte der russische Diktator den von Moskau erfundenen Vorwurf, in der Ukraine sei ein „Nazi-Regime“ an der Macht, auch auf das Baltikum ausgedehnt. Die Fahndung nach Kallas und weiteren baltischen Politikerin stellt somit den nächsten bedrohlichen Schritt des Kremls im Umgang mit seinen baltischen Nachbarländern dar. Dass Moskau und insbesondere Putin selbst „Geschichtsfälschung“ vorgeworfen wird, ignoriert der Kreml dabei.
Zuletzt war der Kremlchef für obskure historische Ausführungen in einem Gespräch mit dem rechten US-Influencer Tucker Carlson international verspottet worden. Putin wollte mit seinem Vortrag den russischen Anspruch auf die Ukraine untermauern, deren Existenzrecht Russland infrage stellt. Auch der russische Sicherheitsratsvize, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, hatte zuletzt damit gedroht, von der Ukraine solle nur die Region Lwiw im äußersten Westen des Landes übrig bleiben.
„Will sich Europa das wirklich gefallen lassen?“
Dass Russland Kallas und anderen baltischen Politikern „Verstöße gegen die historische Erinnerung“ vorwerfe, zeige, dass Moskau „für sich Souveränität in der Deutung der Vergangenheit“ beanspruche, „diese aber anderen Staaten vorschreibe“, erklärte der Historiker Matthäus Wehowski bei X (vormals Twitter).
Auch aus Österreich gab es eine erste Reaktion. Die Vorsitzende der Partei NEOS, Beate Meinl-Reisinger, bezeichnete die Fahndung nach Kallas „als Versuch, eine der in der Frage der Aggression Russlands prononciertesten Regierungschefinnen Europas mundtot machen zu wollen“. Angesichts dessen fragte sie: „Will sich Europa das wirklich gefallen lassen?“
Estlands Geheimdienst warnt vor russischem Angriff
Bei einem Besuch in Österreich hatte Kallas in der letzten Woche erklärt, dass „Russland für einen dauerhaften Frieden seinen letzten Kolonialkrieg verlieren muss“ und weitere Unterstützung für die Ukraine gefordert. „Europa muss der Ukraine helfen, diesen Krieg zu gewinnen“, so Kallas.
Der estnische Geheimdienst warnte unterdessen am Dienstag vor einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland, zu der es laut Einschätzung der Behörde innerhalb der nächsten zehn Jahre kommen könne.
„Russland hat den Weg einer langfristigen Konfrontation gewählt“
Der Chef des Geheimdienstes sagte der Nachrichtenagentur Reuters zufolge, diese Einschätzung basiere auf russischen Plänen, die Zahl der an der Grenze zu den Nato-Mitgliedstaaten Finnland sowie den baltischen Staaten Estland, Litauen und Lettland stationierten Streitkräfte zu verdoppeln. „Russland hat den Weg einer langfristigen Konfrontation gewählt“, erklärte Kaupo Rosin demnach.
Die deutsche Bundesregierung hat bisher noch nicht auf die Fahndung nach Kallas reagiert. Deutschland will jedoch bis 2027 eine 5000 Männer und Frauen starke Bundeswehr-Brigade im Baltikum zum Schutz der Nato-Ostflanke stationieren. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte bei der Bekanntmachung des Schrittes im Dezember bekräftigt, „jeden Zentimeter des Bündnisgebietes jederzeit zu verteidigen“. (mit afp)