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Ex-Botschafter der UkraineMelnyk über Panzerlieferungen – „Wer weiß, wie viele Leben wir hätten retten können“

Lesezeit 7 Minuten
Andrij Melnyk, heute Vize-Außenminister der Ukraine.

Andrij Melnyk, heute Vize-Außenminister der Ukraine.

Als ukrainischer Botschafter galt Andrij Melnyk als unbequem. Als Vize-Außenminister übt er aus Kiew weiter Druck auf die Bundesregierung aus.

Herr Melnyk, der noch relativ neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat nach der Lieferung der deutschen Leopard-2-Panzer an die Ukraine gesagt: „Auf uns ist Verlass.“ Sie haben immer wieder kritisiert, dass die Bundesregierung bei Waffenlieferungen zu zögerlich ist. Teilen Sie die Meinung des Ministers?

Wir spüren, dass mit Minister Pistorius neue Bewegung in die Sache gekommen ist. Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Pistorius schon am 24. Februar vergangenen Jahres Verteidigungsminister gewesen wäre. Dann wäre der Kriegsverlauf vielleicht ein anderer gewesen. So viel Zeit wurde vergeudet. Aber das ist vorbei, wir müssen jetzt gemeinsam neue Aufgaben anpacken.

Vor den 18 Leopard-2-Kampfpanzern hat Deutschland bereits Schützenpanzer Marder geliefert. Deutschland und auch andere Nationen haben zudem weitere Panzer geschickt oder zugesagt. Reicht das, um die russischen Truppen zurückzudrängen?

Wir danken dafür, nur muss man leider sagen, dass das bei weitem nicht ausreichend ist. Die Panzer sind ein guter erster Schritt, aber noch lange keine Garantie dafür, dass die Ukraine die Russen jetzt schnell zurückdrängen kann. Dafür müssen wir in anderen Dimensionen denken. Die Russen können nach unseren Erkenntnissen täglich bis zu zehn Panzer erneuern oder herstellen. Deswegen hoffen wir, dass die Deutschen sowohl bei den Kampfpanzern als auch bei anderen Waffen kräftig nachziehen. Von 328 Leoparden der Bundeswehr wurden uns rund 6 Prozent geliefert. Von 600 Fuchs-Transportpanzern oder 300 Wiesel-Kettenfahrzeugen haben wir kein einziges erhalten. Entscheidend ist, dass Deutschland endlich eine Führungsrolle spielt, damit andere Partner mitziehen.

Über Panzer hinaus hat die Ukraine auch um westliche Kampfjets gebeten. In Deutschland hat sich da bislang nichts getan. Sind Sie mit der Bundesregierung darüber noch im Gespräch?

Klar, das Thema soll auf der Tagesordnung ganz oben bleiben. Wir verstehen, dass die Ampel die schwierigen Diskussionen um die Kampf- und Schützenpanzer erst verdauen musste. Wir müssen über Kampfflugzeuge wie Eurofighter sprechen, auch über deutsche Kriegsschiffe. Es geht aber nicht nur um dringend gebrauchte neue Waffensysteme, sondern auch um Schnelligkeit. Die Vorlaufzeiten für Kampfjets und Kriegsschiffe sind lang. Diese Entscheidungen müssen sehr bald kommen. Wir rufen den neuen Verteidigungsminister auf, nicht mehr auszuweichen, sondern diese zentrale Frage anzupacken. Wir müssen beim Thema Kampfjets, Korvetten und U-Boote sehr bald vorankommen. Wenn bei den Panzern die Entscheidung noch im März 2022 getroffen worden wäre, wer weiß, wie dann heute der Frontlinie aussehen würde und wie viele Leben wir hätten retten können.

Was war aus Ihrer Sicht der Grund für diese Zögerlichkeit Deutschlands?

Man hat zu viel Zeit gebraucht, um einzusehen, dass die Ukraine in der Lage ist, diesen massiven Angriff Russlands abzuwehren. Das war wahrscheinlich einer der hemmenden Faktoren, vor allem in den ersten Kriegswochen. Aber jetzt hat man ja keine Zweifel, dass die Ukrainer willens und imstande sind, dass wir fähig sind, auch die neuesten Waffensysteme sehr schnell zu beherrschen. Deswegen kommt es jetzt darauf an, den entstandenen Image-Schaden mit neuen mutigen Schritten der Bundesregierung auszugleichen. Die Deutschen sollten nicht mehr kleinkariert denken, sondern strategische Weichen stellen. Wir müssen schauen, wie wir die ukrainische Armee befähigen, die besetzten Gebiete und Millionen Ukrainer bis zum Jahresende zu befreien. Aber die Ampel muss auch dafür Sorge tragen, dass künftig keine neuen Kriege in Europa entstehen. Das ist auch im Interesse Deutschlands.

Das Ziel bleibt der Beitritt der Ukraine zur Nato?

Das Endziel für uns ist ganz klar, die Ukraine muss der Nato am nächsten Tag beitreten, wenn dieser barbarische Vernichtungskrieg Russlands vorbei ist. Auch das sollten wir mit den Deutschen gemeinsam gut vorbereiten.

Neben der Nato-Mitgliedschaft strebt Ihr Land auch den EU-Beitritt an, seit vergangenem Juni hat die Ukraine Kandidatenstatus…

Ja, das stimmt. Auch da sollte Deutschland eine sehr wichtige, vielleicht die entscheidende Rolle spielen. Wir hoffen, dass wir noch in diesem Jahr mit Hilfe der Bundesregierung und des Kanzlers die Beitrittsverhandlungen beginnen können. Das ist ein ambitioniertes Ziel, aber es ist erreichbar. Auch beim Kandidatenstatus für die Ukraine hat Berlin lange gezögert, hat uns am Ende aber unterstützt. Wir machen unsere Hausaufgaben sehr fleißig. Die Deutschen und die Europäer wissen, dass wir das ernst nehmen, dass wir das nicht nur quasi als Formsache abhaken möchten, sondern dass wir uns ordentlich vorbereiten, ungeachtet des Krieges. Es geht darum, dass die Ukraine viel schneller fit sein kann, sowohl für den EU- als auch für den Nato-Beitritt. Wir wollen auch den deutschen Freunden zeigen, dass diese beiden Mitgliedschaften in ihrem ureigensten Interesse sind.

Warum sollte das im Interesse der Deutschen sein?

Was die Nato betrifft: Da war ja immer der Vorwurf, dass die Ukraine nur beitreten wolle, um unter den Nato-Schutzschirm zu kommen und Nutznießer der kollektiven Sicherheit zu sein. Die Deutschen, die Amerikaner und die anderen Bündnisstaaten hätten uns dann bei einem Angriff entsprechend der Beistandsklausel verteidigen müssen. Jetzt haben wir gezeigt, dass die ukrainische Armee einen enormen Beitrag leisten kann, um die Nato-Verbündeten zu schützen. Wenn wir Nato-Mitglied sind, dann ist auf uns Verlass, dann werden kampferprobte ukrainische Streitkräfte unseren deutschen Freunden zur Hilfe eilen, sollten sie angegriffen werden. Die ukrainische Armee gehört ja nun zu den stärksten in Europa.

Und was die EU angeht?

Die Ukraine ist geografisch betrachtet das größte Land in Europa und wird das auch nach dem Krieg bleiben. Die Ukraine hat eine sehr lebendige Demokratie und Zivilgesellschaft. Wirtschaftlich wird die Ukraine mit ihren Ressourcen und ihrem menschlichen Potenzial ein bedeutender Faktor für die Europäische Union, auch für die deutsche Industrie, bleiben. Wir haben leider noch nicht geschafft, den Menschen in Deutschland klarzumachen, dass unsere EU-Mitgliedschaft diese Gemeinschaft nur stärker machen und ihren Wohlstand für die Zukunft sichern wird.

Zum Jahrestag des Krieges am 24. Februar hat Präsident Wolodymyr Selenskyj 2023 zum Jahr des Sieges erklärt. Seitdem hat sich im Frontverlauf nichts getan. Ist das Ziel realistisch?

Oh ja. Wir sehen zwar, dass Russland sich auf einen langen Krieg vorbereitet. Aber wir wollen den Ukrainern nicht zumuten, diesen blutigen Krieg noch jahrelang zu führen. Die Verluste und die Verwüstungen sind schon heute enorm. Wir müssen daher auf Tempo setzen. Vom Kriegsbeginn bis zu den Leopard-2-Lieferungen sind 13 Monate vergangen. Wir müssen jetzt wirklich einen Durchbruch erreichen. Auch die Deutschen sind in der moralischen Pflicht, dazu massiv beizutragen, dass die ukrainische Gegenoffensive wirklich schnell zum Erfolg führt.

Wann kann diese Gegenoffensive beginnen?

Darüber möchte ich nicht spekulieren, da spielen einfach zu viele Faktoren eine Rolle. Wir brauchen ja einen Überraschungseffekt.

Sie hatten letztens von einer Kriegsmüdigkeit in Deutschland gesprochen….

Ich will das nicht schönreden und sagen, dass alles in Butter ist, dass die Bereitschaft sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft zur Unterstützung der Ukraine ungebrochen ist. Das ist leider nicht so. Daher kommen auch immer öfter Forderungen nach Verhandlungen mit dem Argument, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen sei. Ich hoffe, dass diese naiven Friedensappelle ins Leere laufen, weil man ja sieht, dass Putin gar nicht bereit ist zu verhandeln. Wir wollen beweisen, dass wir in der Lage sind, die Russen auf dem Schlachtfeld zu besiegen.

Die deutsche Botschafterin Anka Feldhusen geht im Sommer zurück nach Deutschland, den Posten soll Martin Jäger übernehmen, der derzeit Botschafter im Irak ist. Was erwarten Sie von ihm?

Anka Feldhusen kenne ich sehr gut, wir waren sogar befreundet. Herrn Jäger kenne ich auch persönlich, aber weniger gut, vor allem kenne ich ihn als ehemaligen Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Er kommt jetzt aus einem Land, in dem es auch aus militärischer Sicht viele Herausforderungen gibt. Ich hoffe, dass er der Ukraine helfen wird, die Unterstützung aus Berlin weiter zu zementieren und unumkehrbar zu machen. Er wird hier keine Schonfrist haben und wird sofort loslegen müssen.