Erst rückt die Ukraine in Kursk vor, dann gibt Wolodymyr Selenskyj ein Interview – die Reaktion aus Moskau folgt und fällt schrill aus.
Kreml reagiert mit BeleidigungenKursk-Offensive und Selenskyj-Interview bringen Moskau zur Weißglut
Erst startete die Ukraine am Sonntag eine neue Offensive in der russischen Grenzregion Kursk, dann wurde ein stundenlanges Interview mit Präsident Wolodymyr Selenskyj veröffentlicht. Die Reaktion aus Russland folgt prompt und fällt erneut schrill aus. „Die grüne Kreatur sagte, dass sie das ‚gesamte russische Volk verachtet‘. Es ist klar, dass das ‚gesamte russische Volk‘ den Bastard verachtet“, schrieb Dmitri Medwedew, ehemaliger russischer Präsident und nunmehriger Vizechef des Sicherheitsrats in Moskau auf seinem Profil im sozialen Netzwerk VKontakte.
Die Rache der Russen an Selenskyj werde nicht enden, wenn der Ukrainer sein Amt verlasse, drohte Medwedew zudem und bemängelte, die Ukraine habe gegen die „Regeln der politischen Korrektheit“ verstoßen – während er selbst Selenskyj seit Kriegsbeginn mit Beleidigungen und Morddrohungen überzogen hat.
Selenskyj-Interview sorgt für Wutausbruch von Dmitri Medwedew
Selenskyj hatte zuvor in einem Interview mit dem Journalisten Lex Fridman erklärt, warum er das Gespräch nicht auf Russisch führen wollte, wie von Fridman vorgeschlagen. Russisch sei die Sprache der Angreifer, erklärte Selenskyj und erinnerte daran, dass er sich zu Kriegsbeginn auf Russisch an die Russen gewandt hätte.
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„Keinerlei Effekt“ habe das gehabt, führte Selenskyj aus. „Sie haben nicht zugehört, sie hören nicht zu“, sagte der Präsident und verglich das Verhalten der Russen mit unterlassener Hilfeleistung. „Das ist der Grund, warum ich diese Leute wirklich verachte, denn sie sind taub“, fügte Selenskyj schließlich an.
Selenskyj über Putin: „Er liebt nur seinen inneren Machtzirkel“
Dennoch sei es nicht wahr, dass Russisch in der Ukraine nicht mehr gesprochen werden dürfe, betonte Selenskyj. Viele Ukrainer würden weiterhin Russisch sprechen, so der Präsident, der selbst in dem Interview stellenweise auf Russisch antwortete und einige grundsätzliche Einschätzungen zu Putin und den Russen äußerte.
Kremlchef Wladimir Putin empfinde keine Liebe für seine Landsleute, erklärte Selenskyj. „Er liebt nur seinen inneren Machtzirkel.“ Das werde bereits dadurch sichtbar, dass Putin russische Soldaten zum Sterben in andere Länder schicke, darunter auch „18-jährige Jungen“. Das sei nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Tschetschenien, Syrien, Georgien und in afrikanischen Ländern der Fall gewesen.
Aussöhnungen nach Kriegsende: Selenskyj verweist auf Deutschland
Putin habe seit der ukrainischen Offensive in Kursk die Menschen dort nicht einmal besucht, führte Selenskyj aus. Eine zukünftige Aussöhnung zwischen Russen und Ukrainern nach Kriegsende sei dennoch nicht unmöglich. Dafür müsse die russische Seite jedoch eingestehen, dass sie der Aggressor gewesen seien und dass es Dinge gibt, die nicht vergeben werden könnten.
Selenskyj verwies dabei auf Deutschland und die Jahrzehnte andauernde Aufarbeitung der Nazi-Zeit. „Auch wenn die Kinder nichts damit zu tun hatten, es waren ihre Großväter, die Teil davon waren – und auch nicht alle von ihnen“, erklärte Selenskyj. „Dafür entschuldigen sie sich noch immer.“
Selenskyj: „Russland muss sich entschuldigen – und das werden sie“
„Um Verzeihung zu bitten, ist nicht einfach. Sie wissen, dass sie die Aggressoren waren. Sie fordern keinen Kompromiss in der Geschichtsschreibung und sie haben Reparationen gezahlt“, umriss Selenskyj zudem die auf russischer Seite notwendigen Schritte, damit eine Aussöhnung in der Zukunft möglich werden könne.
„Russland muss sich entschuldigen – und das werden sie, denn sie sind schuldig.“ Das gelte sowohl für diejenigen, die an den Kämpfen beteiligt gewesen seien, als auch für jene, die „still geblieben“ sind. „Schweigen ist auch eine Art von Teilnahme“, erklärte Selenskyj.
Ukraine startet neue Offensive in russischer Region Kursk
Bevor das Interview am Sonntagabend veröffentlicht worden war, hatte die ukrainische Armee bekanntgegeben, dass eine neue Offensive in der Grenzregion Kursk gestartet worden sei. Nach dem überraschenden Gegenangriff ukrainischer Einheiten in der russischen Region Kursk lieferten sich die verfeindeten Seiten bis zum späten Abend schwere Kämpfe.
Der Generalstab in Kiew meldete in seinem abendlichen Lagebericht insgesamt 42 einzelne bewaffnete Zusammenstöße in der westrussischen Region. „Zwölf Gefechte dauern zur Stunde noch an“, hieß es. „Die Russen in der Region Kursk machen sich große Sorgen, weil sie aus mehreren Richtungen angegriffen wurden und dies für sie überraschend kam“, kommentierte der Generalstab in Kiew die jüngsten Entwicklungen. Russische Medien berichteten am Abend lediglich über abgewehrte Drohnenangriffe bei Kursk. Über Verluste, Erfolge oder veränderte Frontlagen machten die beiden Seiten keine Angaben.
Kreml droht erneute Blamage in Kursk
Ukrainische Einheiten waren im vergangenen Sommer unerwartet über die Grenze hinweg in Richtung der westrussischen Stadt Kursk vorgestoßen und hatten dabei größere Geländegewinne erzielt. Für den Kreml galt die Invasion auf eigenem Staatsgebiet als große Blamage, auch dass Moskau die Gebiete seitdem nicht zurückerobern konnte, gilt als Schmach für Putin und die Armee-Führung.
Russland hat in den letzten Wochen rund 50.000 Soldaten, unter ihnen rund 10.000 Kämpfer aus Nordkorea, zu einer Gegenoffensive zusammengezogen. Kremlchef Putin hat seinen Landsleuten die Rückeroberung der Gebiete versprochen.
Selenskyj spekuliert in Interview über Wege zum Frieden
Bis zu dem neuen Gegenstoß der Ukrainer hatte das russische Militär knapp die Hälfte des besetzten Gebiets in monatelangen schweren Kämpfen zurückerobert. Die ukrainischen Kräfte gänzlich hinter die Grenze zurückzudrängen, gelang der russischen Armee bisher jedoch nicht. Nun scheint der erneute Vorstoß der Ukrainer die Kreml-Truppen erneut überrascht zu haben.
Im Gespräch mit Fridman sprach Selenskyj unterdessen auch über Wege zum Frieden und brachte ein Denkmodell ins Spiel: Eine sofortige Nato-Mitgliedschaft seines Landes im Tausch für die Aufgabe der von Russland besetzten Gebiete in der Ostukraine. „Unser Land wird dem jedoch nur zustimmen können, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind“, sagte Selenskyj in einem Gespräch mit dem US-Podcaster.
Teil-Aufnahme in die Nato? „Darauf kann man sich einigen“
„Rechtlich gesehen ergeht eine Einladung der Nato an die Ukraine, und wir erkennen nicht alle anderen ukrainischen Gebiete an, aber die Nato kann in dem Teil operieren, der unter ukrainischer Kontrolle steht – darauf kann man sich einigen“, beschrieb Selenskyj ein mögliches Szenario.
Dies sei aber nur möglich, wenn die Ukraine einen diplomatischen Weg zur Beendigung des Krieges sehe, präzisierte er. Um zu einem Frieden zu kommen, müsse die Ukraine neben der Nato-Mitgliedschaft als weitere Sicherheitsgarantie starke Waffenpakete von den USA und der EU erhalten. „Denn ohne Sicherheitsgarantien kommt Putin wieder“, erklärte Selenskyj.