AboAbonnieren

Verfassungskrise, vermeintliche SiegerWas bei der US-Wahl schief gehen kann

Lesezeit 11 Minuten
Polling Station

Bei der US-Wahl drohen verschiedene problematische Szenarien.

Washington – Im Idealfall werden die Amerikaner am Mittwoch aufwachen und haben einen neu gewählten Präsidenten, dessen Wahlsieg vom unterlegenen Kandidaten und dem ganzen Land akzeptiert wird. Danach würde sich entweder Präsident Donald Trump auf seine zweite Amtszeit vorbereiten oder sein Herausforderer Joe Biden auf seine Amtsübernahme am 20. Januar. Niemand würde von Wahlbetrug sprechen, es bliebe im ganzen Land friedlich. Soweit die Hoffnung. Falls ein Kandidat mit großer Mehrheit gewinnen sollte, könnte es so kommen. Falls es knapp werden sollte, könnte es deutlich chaotischer werden.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wohl wichtigste ist, dass der Republikaner Trump mehrfach gesagt hat, sein demokratischer Widersacher könne nur gewinnen, falls es „massiven Wahlbetrug“ gäbe. Falls Trump verlieren sollte und sich weigern sollte abzutreten, dürfte der Fall zunächst die Gerichte beschäftigen. Letztlich könnte den USA aber eine gefährliche Verfassungskrise drohen.

Auch das Coronavirus spielt dabei eine Rolle: Wegen der Pandemie wird mit einer massiven Zunahme der Briefwahl gerechnet, als Folge könnte sich die Bekanntgabe der Ergebnisse verzögern. Diese zusätzliche Unsicherheit könnte von einem Kandidaten ausgeschlachtet werden - und das in einem gespaltenen Land, in dem sich die beiden politischen Lager zunehmend feindselig gegenüberstehen. Zudem soll es in den USA Schätzungen zufolge rund 400 Millionen Feuerwaffen in Privatbesitz geben. Hier ein Überblick zu möglichen problematischen Szenarien:

Es gibt in der Wahlnacht keinen Sieger

Die Präsidentenwahl wird wegen des indirekten Wahlsystems in den Bundesstaaten entschieden: Ein Kandidat braucht zum Sieg die Stimmen von mindestens 270 Wahlleuten der Bundesstaaten. Verzögerungen bei der Auszählung der Briefwahlunterlagen in größeren Staaten könnten daher dazu führen, dass es anders als bei den vergangenen Wahlen am Mittwochmorgen (Ortszeit) noch keinen klaren Sieger gibt.

Die umkämpften Bundesstaaten Pennsylvania und Michigan etwa haben bereits angekündigt, dass sich die Auszählung der Stimmen dort bis Freitag hinziehen könnte. Auch in Wisconsin scheinen Verzögerungen nicht ausgeschlossen. Zusammen stellen diese Staaten 46 Wahlleute - sie könnten also das Zünglein an der Waage sein. Die „New York Times“ warnte ihre Leser bereits: „Geduld ist eine Tugend.“

Solange keine Partei angesichts der Verzögerung von Betrug oder Skandal spräche, wäre das unproblematisch. Dann stünde der Gewinner eben ein bisschen später fest. Ein solches Szenario scheint aber angesichts von Trumps Haltung unwahrscheinlich.

Noch kein Endergebnis, aber Trump ruft sich zum Sieger aus

Trump hat mehrfach gefordert, dass es noch in der Wahlnacht einen klaren Sieger geben müsse. „Müssen Endergebnisse am 3. November haben“, schrieb Trump in der Woche vor der Wahl. Twitter markierte seine Nachricht umgehend als problematisch und versteckte den Tweet hinter einem Warnhinweis. Mit diesen Aussagen hat Trump Befürchtungen genährt, dass er sich zum Sieger ausrufen könnte, bevor die Wahl tatsächlich entschieden ist. Der Sinn eines solchen Schachzugs wäre es wohl, die Legitimität der Wahl zu untergraben, damit ein womöglich später verkündeter Wahlsieg Bidens leichter angreifbar wäre.

Für einen solchen Schritt kämen Trump Verzögerungen bei der Auszählung der Briefwahlstimmen wohl gelegen. Umfragen legen nahe, dass die in den Wahllokalen abgegebenen Stimmen wohl eher zugunsten Trumps ausfallen dürften, die Briefwahlstimmen eher für Biden. Nach dieser Logik wäre klar: je länger gezählt wird, desto gefährlicher könnte es für Trump werden. Zudem macht der Präsident seit Monaten mit Betrugsvorwürfen, für die er keine Beweise vorlegt, Stimmung gegen Briefwahl. Er könnte nicht ausgezählte Stimmen pauschal als gefälscht bezeichnen. Der Streit dürfte dann vor Gericht landen.

In den USA gibt es auf Bundesebene kein Wahlamt und keinen Bundeswahlleiter, der als verbindliche und unabhängige Autorität zeitnah das letzte Wort hätte. In den USA gibt es 51 Wahlleiter: Die Bundesstaaten und die Hauptstadt Washington sind jeweils für die Organisation der Wahl und das Auszählen der Stimmen verantwortlich. In Streitfällen haben in der Regel die Gerichte das letzte Wort.

Die Prognosen der US-Medien

In den USA dauert es schon immer recht lange, bis die offiziellen Endergebnisse der Bundesstaaten vorliegen. Führende US-Medien tragen daher örtliche Ergebnisse zusammen und kombinieren diese teils mit anderen Daten, um noch vor Auszählung aller Stimmen zu prognostizieren, wer die Wahl gewonnen hat. Das System hat in der Vergangenheit - mit Ausnahme der umstrittenen Wahl im Jahr 2000 - gut funktioniert. Dieses Jahr könnte es wegen des hohen Briefwahlanteils schwieriger werden, die Ergebnisse zuverlässig zu prognostizieren.

Die Wahl wird vor Gericht entschieden

Anwälte von Republikanern und Demokraten stehen sich wegen der Wahl schon seit Monaten in Dutzenden Prozessen gegenüber. Grob gesagt wollen die Demokraten das Abstimmen möglichst einfach machen, um eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen. Die Republikaner wehren sich aber gegen Maßnahmen, die zum Beispiel wegen der Pandemie das Abstimmen per Briefwahl erleichtern sollen. Die ganze Wahl könnte aber letztlich von ein paar Hundert oder Tausend Stimmen in einem Staat abhängen - ein einziger Rechtsstreit könnte bei einem knappen Ergebnis daher theoretisch zum Zünglein an der Waage werden.

So ähnlich lief die Wahl 2000 ab: Ob George W. Bush oder Al Gore der nächste Präsident würde, hing damals nur am Auszählungsergebnis im bevölkerungsreichen Bundesstaat Florida. Der Rechtsstreit um das Ergebnis und Neuauszählungen zog sich einen Monat hin, bis vor das Oberste Gericht in Washington. Danach räumte Gore seine Niederlage ein. Bush gewann mit 537 Stimmen Vorsprung, sicherte sich die Stimmen der Wahlleute Floridas und wurde US-Präsident.

Ein solcher Rechtsstreit wäre 2020 vor allem in den umkämpften „Swing States“ wahrscheinlich, also jene Staaten, die mal für einen Republikaner, mal für einen Demokraten stimmen. Dazu gehört neben Florida auch Pennsylvania, wo es Probleme mit der Briefwahl geben könnte. Ein Rechtsstreit könnte bis vors Oberste Gericht in Washington gehen. Sechs der neun Richter gelten als konservativ, drei von ihnen hat Trump ernannt. Vorteil Trump?

Was passiert, wenn es wochenlang kein Ergebnis gibt?

Im Prinzip wäre das kein Problem. Unabhängig vom Wahlausgang wird Trump die Geschäfte wie von der Verfassung vorgesehen weiterführen, bis der neue Präsident am 20. Januar vereidigt wird. Eine längere Phase der Unsicherheit könnte politisch folgenschwer sein. Das Land ist jetzt schon gespalten, und diese Spaltung könnte sich noch vertiefen. Den USA könnten unruhige Wochen bevorstehen, inklusive Protesten.

Welche Fristen gibt es?

Wenn alles glattlaufen sollte, beglaubigen die Bundesstaaten bis 8. Dezember ihre Wahlergebnisse. Am 14. Dezember müssen dann die 538 Wahlfrauen und Wahlmänner bestimmen, wer ins Weiße Haus einzieht. Im Idealfall ist deren Abstimmung nur eine Formsache, die das Ergebnis aus den Bundesstaaten widerspiegelt. Am 6. Januar wird im US-Kongress ab 19.00 Uhr MEZ bei einer gemeinsamen Sitzung der beiden Parlamentskammern offiziell bekanntgegeben, wer der nächste Präsident und Vizepräsident sein wird. Erst dann herrscht Rechtssicherheit. Der neue Präsident wird dann am 20. Januar feierlich ins Amt eingeführt.

Falls es nach der Wahl zu Prozessen um das Ergebnis kommen sollte, müsste alles vor der Abstimmung der Wahlleute im Dezember geklärt sein. Sollte das Ergebnis bis zur Abstimmung der Wahlleute noch umstritten sein, würde es sehr kompliziert. Das ist so ähnlich erst einmal passiert - im Jahr 1876, als die Krise letztlich erst durch einen politischen Kuhhandel gelöst wurde.

Trump gewinnt die Wahl, aber Biden die meisten Stimmen

Weil der Präsident nicht direkt gewählt wird, ist es streng genommen egal, wer die meisten Stimmen bekommt. 2016 etwa lag die Demokratin Hillary Clinton mit knapp 66 Millionen Stimmen fast drei Millionen Stimmen vor Trump. Die von dem Republikaner gewonnenen Bundesstaaten verhalfen ihm aber zu einer großen Mehrheit der Wahlleute (304 gegen 227). Es war das fünfte Mal in der US-Geschichte, dass ein Kandidat ohne eine Mehrheit der Direktstimmen Präsident wurde.

Aufgrund des Wahlsystems und der Zusammensetzung der Bevölkerung der Bundesstaaten könnte es bei dieser Wahl erneut ein solches Ergebnis zugunsten Trumps geben. Das Resultat wäre juristisch unproblematisch, politisch könnte es aber verhängnisvoll sein: Es könnte zu Protesten kommen, die auch die Fairness des Wahlsystems in Frage stellen.

Trump verliert, weigert sich aber, seine Niederlage einzuräumen

Für diesen Fall gibt es grundsätzlich zwei Szenarien. Im ersten Fall kämpft Trump vergeblich vor Gericht gegen seine Niederlage, er wirft den Demokraten Wahlbetrug vor und feuert täglich wütende Tweets ab. Das Wahlkollegium wählt Biden zum neuen Präsidenten. Trump räumt seine Niederlage zwar nie öffentlich ein, verlässt aber am 20. Januar wie von der Verfassung vorgesehen das Weiße Haus. Seine Vorwürfe über den angeblichen Wahlbetrug wird er aber wohl weiter äußern.

Der zweite Fall ist ein wesentlich düstereres Szenario: Wie oben erläutert wehrt sich Trump gegen die Niederlage. Er weigert sich jedoch, auch nach Ausschöpfung des Rechtswegs abzutreten. Biden wird aber am 20. Januar vereidigt. Damit befänden sich die USA in einer Verfassungskrise ohne Gleichen. Es gibt dafür keinen klaren Fahrplan.

Biden hatte im Juni gesagt, er sei „absolut überzeugt“, dass das Militär Trump notfalls aus dem Weißen Haus eskortieren würde, falls dieser sich weigern sollte. Der von Trump ernannte Generalstabschef Mark Milley erklärte aber, das Militär werde auch im Fall eines umstrittenen Wahlausgangs keine Rolle spielen.

Für ganz pessimistische Beobachter gibt es auch noch das Katastrophenszenario: Trump verliert, er und sein Justizministerium weigern sich aber trotz Ausschöpfung des Rechtswegs, das Ergebnis anzuerkennen. Es kommt zu Protesten und Ausschreitungen im ganzen Land. Trump setzt die Nationalgarde ein, schließlich ruft er sogar das Kriegsrecht aus („insurrection act“), um das Militär einzusetzen. Demonstranten greifen ebenfalls zu Waffen, es drohen Chaos und Gewalt. So etwas ist in der US-Geschichte aber noch nie vorgekommen.

Was passiert, wenn es in den Bundesstaaten Streit gibt?

Dieses Szenario gilt als sehr unwahrscheinlich. Unmöglich ist es aber im Fall eines knappen Wahlausgangs nicht. Es geht um Folgendes: Falls Biden einen wahlentscheidenden Bundesstaat wie zum Beispiel Wisconsin oder Pennsylvania knapp gewinnen sollte, müssten dort Parlament und Gouverneur das Ergebnis vor dem 8. Dezember ratifizieren und nach Washington weiterleiten. Das ist normalerweise nur eine Formalie. In diesen Staaten wird das Parlament jedoch von Republikanern kontrolliert, die Gouverneure sind Demokraten. Das Parlament könnte Trump unter dem Vorwand von Wahlbetrug zum Sieger erklären, der Bundesstaat würde dann zwei Ergebnisse nach Washington schicken. Dann müsste der Kongress entscheiden, welche Stimmen gültig sind.

Falls es aufgrund solcher Diskrepanzen kein klares Votum der Wahlleute geben sollte, müsste der Präsident vom Repräsentantenhaus gewählt werden. Die Demokraten haben in der Parlamentskammer mit 435 Sitzen bislang die Mehrheit, die Stimmverteilung würde sich aber nach den Delegationen der Bundesstaaten richten. Damit säßen die Republikaner am längeren Hebel: Sie kontrollieren 26 der 50 Verbände. In der US-Geschichte wurden erst zwei Präsidentenwahlen (1800 und 1824) auf diese Weise entschieden. Der Senat würde dann den Vizepräsidenten wählen. Falls die Wahl im Kongress scheitern sollte, würde das Präsidentenamt der Vorsitzenden des Repräsentantenhauses zufallen, derzeit die Demokratin Nancy Pelosi.

Was passiert bei einem Patt?

Im unwahrscheinlichen Szenario, dass sich beide Kandidaten je 269 Stimmen der Wahlleute sichern können, gäbe es ein Patt. Die Entscheidung fiele dann dem Repräsentantenhaus zu, wo die Mehrheit der Delegationen der Bundesstaaten ausschlaggebend wäre.

Falls es ein Patt gäbe, käme auch die Frage auf, ob alle 538 Wahlleute am 14. Dezember tatsächlich so abstimmen würden, wie es ihnen das Wahlergebnis ihres Bundesstaats vorgibt. Die Wahlleute sollen sich an das Wahlergebnis halten, in manchen Staaten gibt es dazu auch Vorschriften und Strafandrohungen - aber nicht überall. Die Wahl könnte also theoretisch von Überläufern („faithless electors“) entschieden werden. Dem Repräsentantenhaus zufolge gab es in der US-Geschichte bislang bei neun Wahlen vereinzelte Überläufer. Dadurch wurde aber noch nie das Ergebnis einer Wahl verändert.

Kann es Ärger geben, falls Biden verliert?

Biden hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er eine rechtmäßige Wahlniederlage akzeptieren würde. Falls er sehr knapp verlieren sollte, könnte er natürlich auch den Rechtsweg ausschöpfen und gegebenenfalls vereinzelt Neuauszählungen verlangen. Es rechnet aber kaum jemand damit, dass Biden von Betrug sprechen und die Wahl insgesamt in Frage stellen würde. Trump würde dann am 20. Januar seine zweite und verfassungsgemäß letzte Amtszeit beginnen.

Könnten Hacker die US-Wahl entscheiden?

US-Behörden zufolge versuchen Geheimdienste und andere Stellen aus Russland und dem Iran, die Wahl unter anderem durch das Streuen falscher Informationen zu beeinflussen. Auch China und Nordkorea werden vereinzelt Aktivitäten nachgesagt. Online-Plattformen wie Facebook und Twitter versuchen inzwischen gezielt, solche Kampagnen zu stoppen. 2016 hatten mutmaßlich russische Hacker E-Mails der Parteispitze der Demokraten erbeutet und gegen Clinton eingesetzt.

Sie sollen auch wiederholt die Wahl-Infrastruktur ausspioniert haben. Die Behörden machten in den vergangenen Jahren diese Systeme deutlich sicherer. Es gibt es in der Regel auch nicht nur die elektronischen Ergebnisse, sondern für den Notfall auch noch Wahlzettel, die nachgezählt werden könnten. Der beste Schutz des Wahlsystems dürfte aber in seiner dezentralen Natur liegen: Die Wahl wird von Kommunen, Landkreisen und Bundesstaaten durchgeführt, Hacker müssten also Hunderte oder Tausende Ziele angreifen.