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„Kante zeigen“Wie Annalena Baerbock den diplomatischen Dienst umkrempelt

Lesezeit 8 Minuten
Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen) am 1. Oktober bei der Westbalkankonferenz im Auswärtigen Amt.

Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen) am 1. Oktober bei der Westbalkankonferenz im Auswärtigen Amt.

Diplomatie war bislang ein stilles Geschäft im Hinterzimmer. Jetzt ermutigt Außenministerin Baerbock die deutschen Botschafter, öffentlich Position zu beziehen.

20 Sekunden lang dauert das Video. „The place to be this morning“ ist es überschrieben – der Ort also, an dem man an diesem Morgen sein sollte. Einen Sonnenaufgang auf einem Berggipfel könnte man da vermuten, oder das Bild einer dampfenden Kaffeetasse auf einem Balkon mit Ausblick.

Der Filmschnipsel aber zeigt einen Mann im grauen Anzug auf einer hölzernen Zuschauerbank des Obersten Gerichts Israels – den deutschen Botschafter in Israel und früheren Regierungssprecher, Steffen Seibert. Das Gericht in Jerusalem beriet an diesem Tag über die umstrittene israelische Justizreform. „Ich denke, hier passiert etwas Wichtiges für die israelische Demokratie“, sagt Seibert in dem Video auf Hebräisch. Er postete es auf X (vormals Twitter). Die israelische Regierung empörte sich über eine Einmischung in innere Angelegenheiten.

Ein Jahr ist das nun her. Erst diese Woche postete Seibert das Foto eines umgeholzten Olivenbaums im Westjordanland: „Extremistische Siedler zerstören Bäume, schikanieren palästinensische Bauern“, schrieb er dazu. Einige Tage zuvor verwies er auf die Bedrohung des täglichen Lebens in Israel durch Raketen der Hisbollah und befand, libanesische Zivilisten würden durch die islamistische Miliz in Geiselhaft genommen. Für einen Botschafter sind das recht forsche Äußerungen.

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Annalena Baerbock will mehr Öffentlichkeit als Heiko Maas und Frank-Walter Steinmeier

Im Auswärtigen Amt sieht man die Posts als Beispiel für ein neues Verständnis von Diplomatie. Öffentlichkeit statt fortgeschrittene Heimlichtuerei soll es nun sein. „Diplomatie darf nicht nur im Hinterzimmer stattfinden“, sagt der für Kommunikation zuständige Abteilungsleiter Ralf Beste. „Der Schritt vor die Tapetentür ist wichtig.“ Und der Ton ändert sich dabei zuweilen gleich mit.

Außenministerin Baerbock praktiziert das selbst. Der Unterschied zur öffentlichen Bedächtigkeit ihrer Vorgänger Heiko Maas und Frank-Walter Steinmeier (beide SPD) ließ sich etwa bei ihrem Besuch in China 2023 beobachten, wo sie ihren damaligen Amtskollegen Qin Gang vor Expansionismus, Aggression und Kolonialismus warnte. Man brauche keinen „Lehrmeister aus dem Westen“, gab der zurück. Forsches bis aggressives öffentliches Auftreten hat in China seit einigen Jahren sogar den Rang einer diplomatischen Strategie: „Wolf Warriors“ – Wolfskrieger heißen diese Diplomaten.

Auswärtiges Amt: Deutliche Botschaften – aber keine Aggression

Im Auswärtigen Amt legt man Wert darauf, dass der Kommunikationswechsel nicht auf Aggression setzt. Man brauche „eine klare Haltung“ und die „Bereitschaft, Kante zu zeigen“, wenn Freiheit und die eigenen Werte infrage gestellt würden, appellierte Baerbock vor zwei Jahren an die Chefs und Chefinnen der 225 deutschen Auslandsvertretungen. Bei der diesjährigen Botschafterkonferenz Anfang September hat sie diese Aufforderung noch einmal etwas deutlicher wiederholt: „Wir dürfen uns nicht wegducken“, verkündete die Ministerin. In einer voll digitalisierten Welt gehöre „zur aktiven Diplomatie eine aktive Kommunikation auf allen Kanälen“. Das sei zwar „mega anstrengend“. Aber man dürfe nicht denjenigen den Raum überlassen, „die unsere Werte und Interessen zerstören wollen“. Sachlichkeit, Fakten und Menschlichkeit müssten dabei im Mittelpunkt stehen.

Die Gefahren durch Desinformation sind nicht nur nach Baerbocks Meinung gestiegen. Im Verfassungsschutzbericht wird sie neben Spionage und Cyberangriffen als Gefahr für Deutschland genannt. Das gezielte Streuen von Fake News wird Islamisten, Russland und China zugeordnet. Ziel Russlands sei es etwa, unter Vortäuschung falscher Tatschen politische Entscheidungen zu beeinflussen, Vertrauen der Bevölkerung in Demokratien zu untergraben sowie die westliche Wertegemeinschaft, EU und Nato zu diskreditieren und zu schwächen. Warnungen kommen auch vom Bundesnachrichtendienst.

„Lizenz zum Reden“ an deutschen Botschaften

Eines von Baerbocks Beispielen: Russland versuche in Afrika „die Wunden zu instrumentalisieren, die Europas Kolonialismus in Afrika hinterlassen hat“, und stilisiere sich selbst zum antikolonialen Vorkämpfer. Aus vielen Ländern berichten Diplomaten und Politiker, die deutsche Haltung im Nahostkonflikt werde einseitig wahrgenommen. Man müsse oft erst erklären, dass Deutschland Israels Bemühen um Sicherheit und Freilassung der von der Hamas genommenen Geiseln unterstützt, aber gleichzeitig Israels Angriffe auf Gaza verurteile und sich für mehr humanitäre Hilfe einsetze.

Baerbocks Aufforderung an die Botschaften ist, dies auch öffentlich zu tun. „Die Lizenz zum Reden“, so nennt es Abteilungsleiter Beste, wie Seibert ein früherer Journalist.

„Da hat schon ein Kulturwandel stattgefunden“, bestätigt Tjorven Bellmann. Sie hat an den Botschaften in Israel und im Iran gearbeitet, danach mehrere Jahre in der Berliner Zentrale, zuletzt als Politische Direktorin, einer der höchsten Beamtenposten im Auswärtigen Amt. In diesem Sommer ist sie nach Ottawa gezogen, als neue deutsche Botschafterin in Kanada. Dort praktiziert sie einen ganz eigenen Kulturwandel: Sie teilt sich den Botschafterposten mit ihrem Ehemann.

Tendenz zum Maulkorb

„Früher wurde die Message viel enger aus Berlin kontrolliert. Da gab es eher die Tendenz Maulkorb für Auslandsvertretungen“, erinnert sich Bellmann. An den Wänden des Ministeriums hingen Plakate der Sicherheitsabteilung, die vor dem Umgang mit sozialen Netzwerken warnten – als Einfallstor für Spionage. Botschafter hätten mit Politikern und Diplomaten gesprochen. Gespräche mit der Presse? Lieber nicht. „Jetzt gehört die Öffentlichkeitsarbeit zur Jobbeschreibung“, sagt Abteilungsleiter Beste. Soziale Medien, Interviews, Podiumsdiskussionen, Pressekonferenzen – bitte machen, bekommen die Botschafterinnen und Botschafter nun mit auf den Weg. Interviewtraining ist Teil der Diplomatenausbildung. Argumentationshilfen zu Positionen der Bundesregierung werden um die Welt geschickt – Botschafter sollen Waffenlieferungen an die Ukraine erklären und die Position im Israel-Gaza-Konflikt darlegen können.

Um das Umdenken zu beschleunigen, trommelte Beste rund 20 Botschafterinnen und Botschaftern zusammen, um über Kommunikationsstrategien zu sprechen. Es gab ein erstes Treffen in einem Atelierraum auf dem Dach des Ministeriums und einen Namen mit elitärem Anklang: „Avantgarde-Gruppe“. Seibert gehört dazu, der Botschafter in Südafrika und auch der frühere Ministeriumssprecher Andreas Peschke, der auf seinem X-Kanal schon mal in kurzer Lederhose zu sehen ist und Rugby-Bilder postet. Auch Patricia Flor ist dabei, die im wenig meinungsfreien China als Botschafterin via X – das dort allerdings offiziell blockiert ist – die Freilassung politischer Gefangener fordert. Beste hat als Botschafter in Wien regelmäßig Fotos von seinen Rennradtouren durch Österreich gepostet. Es war etwas anderes als der übliche Diplomat in Nadelstreifen. Die Aufmerksamkeit folgte.

Den Botschaftern, so heißt es, werde bei ihren Postings und Interviews weitgehend freie Hand gelassen. „Es gibt keinen Sinn, einen Post erst mal von acht Menschen in der Zentrale gegenlesen zu lassen. Das verzögert unnötig“; sagt Seibert, der Botschafter in Israel. „Andere Zeiten erfordern eine andere, und zwar eine öffentliche Diplomatie.“ Als früherer Regierungssprecher für Bundeskanzlerin Angela Merkel und zuvor ZDF-Journalist ist er den öffentlichen Auftritt gewöhnt – als Sprecher ist er dabei allerdings oft sehr klassisch diplomatisch gewesen. Merkel hatte es nicht so mit Lautstärke. Jetzt setzt Seibert sehr klar Themen. Wie wird das im Land aufgenommen? „Es gibt die, die finden, dass ein deutscher Botschafter sich am besten gar nicht äußern soll. Aber ein Großteil der Israelis reagiert interessiert und positiv“, sagt Seibert.

Auch Kommunikationsprofis wie Seibert unterlaufen Fehler: Ende August leitete er über X einen Abschiedsbrief eines angeblichen Überlebenden des von Hamas-Terroristen überfallenen Nova-Festivals weiter, der darin seinen Selbstmord ankündigte. Der Brief erwies sich als gefälscht. Seibert löschte seinen Post und entschuldigte sich. „Der Vorfall ärgert mich natürlich“, sagt er. Er findet, er sei damit transparent umgegangen.

Ein spöttisches PS an Donald Trump

Das Ministerium demonstriert, wie weit es die Grenzen setzt, und dass dabei auch Ironie und Sarkasmus ihren Platz haben: Vor Kurzem hat es auf seinem englischsprachigen X-Kanal nicht nur die Behauptung von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump zurückgewiesen, Deutschland sei mit seiner Strategie gescheitert, aus fossilen Energieformen wie Kohle auszusteigen. Es hat dem noch ein spöttisches PS hinzugefügt, das die Distanz zu Trump noch deutlicher macht: „Wir essen auch keine Katzen und Hunde.“ Trump hatte in der Debatte mit seiner demokratischen Konkurrentin Kamala Harris behauptet, Migranten würden Haustiere von US-Amerikanern essen – eine offenkundige Lüge.

Die Union kritisierte den Ministeriumstweet: Es könne doch sein, dass man nach der Wahl mit Trump zusammenarbeiten müsse. Die Zahl der Follower von „GermanForeignOffice“ allerdings stieg um mehrere Tausend.

Negative Kommentare müsse man aushalten, erklärt die Ministerin. „Nur wer den Ball hat, wird angegriffen“, sagt sie. Und auch sogenannte Shitstorms könnten dazu führen, dass Onlinekanäle hinterher mehr Follower hätten. Das Auswärtige Amt hat das genau ausgezählt, über 15 Monate bis zum Frühjahr 2024. Ein negativer Effekt, so ergab sich demnach, trat erst ein, wenn über drei Viertel der Kommentare negativ waren.

Als das russische Außenministerium zum 85. Jahrestag des Einmarsches der Roten Armee in Polen am 17. September behauptete, es habe sich um den Versuch gehandelt, einen Genozid an Menschen in der Ukraine und Belarus zu verhindern, twitterte das Auswärtige Amt nur ein Wort: „Seriously?“ – „Ernsthaft?“ Dazu stellte es das Foto einer Karte mit den Unterschriften der Diktatoren Adolf Hitler und Josef Stalin, mit denen diese die Aufteilung Polens vereinbart hatten, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt.

Nicht alle Diplomaten sind begeistert von der neuen Strategie. Es gebe, so heißt es, die Skeptiker, solche, die Mehrarbeit fürchteten oder mehr Öffentlichkeit schlichtweg nicht für sinnvoll hielten. Botschafterin Bellmann dagegen stellte fest: „Es macht Spaß, die Vielfalt zu nutzen.“ Der Strategiewechsel verfange langsam, heißt es im Ministerium. Abteilungsleiter Beste sagt: „Es ist eine Generationenaufgabe.“